Der des Neoliberalismus unverdächtige Karl Polanyi - er war seit seiner Emigration 1933 nach Großbritannien vor allem in der Arbeiterbildung beschäftigt - war noch in der Lage, die Differenz zwischen traditionalen und kapitalistischen Gesellschaften auf den Punkt zu bringen. Im Kapitalismus sei das ökonomische System nicht mehr in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingebettet, sondern umgekehrt die gesellschaftlichen Verhältnisse in das ökonomische System. "Die Wirtschaft ist unser Schicksal", hatte Walther Rathenau gesagt. "Die Politik ist unser Schicksal", setzte Carl Schmitt dagegen. Rathenau hat Recht behalten. Das ist die Lage.
Man mag sie mögen oder nicht, man muss sie zur Kenntnis nehmen. Schon daran scheitert Franz Müntefering. Wer seine Rede vom 13. April 2005 gelesen hat, muss erkennen, dass hier jemand nach dem Motto "Nicht sein kann, was nicht sein darf" operiert. Dass seine Partei ihn inzwischen in diesem Denkstil noch überbietet, ist kein gutes Zeichen. Einige Glaubenssätze:
"Staat muss gestalten, das ist das europäische Verständnis von Sozialer Ordnung. Das ist auch das sozialdemokratische Verständnis von Staat." "Deshalb wollen wir soziale Marktwirtschaft und nicht Marktwirtschaft pur." "Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profit-Handelns". "Die international forcierten Profit-Maximierungs-Strategien gefährden auf Dauer unsere Demokratie".
Um im Stile des Vorsitzenden fortzufahren: Bürger wollen Staat gegen Profit. Kapital international, böse. Staat national, gut. Umverteilen. Das Demokratie. Du nur kleiner Proll. Du SPD wählen.
Plötzlich darf in Deutschland wieder von "Kapitalismus" gesprochen werden. Hatten wir denn vorher in einem anderen System gelebt? In einer "Sozialen Marktwirtschaft?" Die Bevölkerung der DDR hätte es dann noch besser gehabt: Sie lebte in einem "real existierenden Sozialismus". Deutschland ist das Land in Europa, das aufgrund seiner Teilung nach 1945 in die historisch einmalige Situation gekommen war, beide Denkschulen der sozialistischen Tradition am eigenen Leibe zu erfahren.
Die alte Sozialdemokratie hatte sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs gespalten; aus ihr gingen die Kommunisten und die Sozialdemokraten hervor. Die Kommunisten schauten nach ihrer "Bolschewisierung" in den zwanziger Jahren auf die Sowjetunion als Vorbild. Sie hielten an dem Marxschen Gedanken einer eigenständigen sozialistischen Gesellschaftsformation fest. Dass die UdSSR die Marxschen Kriterien nicht erfüllte, störte sie wenig. Denn ursprünglich hatte Marx an eine Revolution in einem hochindustrialisierten Land gedacht, nicht an ein halb-agrarisches Gebilde, das seine Industrialisierung noch vor sich hatte. Marx´ idealer Kommunismus sollte nicht mehr mit einem noch weiter existierenden kapitalistischen Weltmarkt konkurrieren müssen. Der sogenannte "Marxismus-Leninismus" wischte diese Bedenken weg und wurde zur Ideologie des "sozialistischen Aufbaus in einem Land" mit stark nationalistischen Zügen. Das übertrug sich später auch auf die DDR. Inzwischen hat der Weltmarkt diese sozialistischen Ausreißer wieder eingesammelt.
Die Sozialdemokraten lehnten das sowjetische Experiment ab und machten einen Halbfrieden mit dem Kapitalismus. Von Ferdinand Lassalle hatten sie eine etatistisch-korporatistische Tradition ererbt. Auch Marx war Hegelianer gewesen, hatte aber schon früh eingesehen, dass das Kapital die bürgerliche Gesellschaft dominieren würde, nicht der Staat. Auf das Denken der SPD hat er nie Einfluss gehabt; sie blieb im Grunde preußisch-hegelianisch-staatstreu. Die SPD wollte nie die Gesellschaft umwälzen, sondern als "Partei" den Staat erobern; der sollte es dann richten.
Was hat der Staat an Möglichkeiten? Gesetze und Steuerschrauben. Das Auferlegen von Gesetzen und Steuern wurde so zur Kunst verhinderter Revolutionäre; an der Basis halfen die Gewerkschaften nach. Das ging eine Zeit lang sogar ganz gut. Insofern ist Franz Münteferings "Kapitalismuskritik" gar keine Kritik am Kapitalismus; es ist nur die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der es sich im nationalen Rahmen korporativ kungeln ließ. Daraus bezog die politische Klasse ihr Ansehen und ihre relative Macht. Was sie heute beklagt, ist das misslungene Arrangement mit dem Kapital: Sie hat die Arbeiter in den Kapitalismus integriert. Aus der ehemaligen "Arbeiterklasse" hat sie eine Masse von Konsumenten gemacht, deren Schnäppchenjagd nun in eine Abwärtsspirale geraten ist. Geiz ist geil!
1989/90 war der Sozialismus der Sowjetunion und ihres "Ostblocks" zusammengebrochen. Doch wer sich darüber freute, hatte sich zu früh gefreut. Heute müssen wir erkennen: Die Globalisierung hat zuerst das wirtschaftlich schwächere System erledigt, heute sind wir dran. Die eine Variante des Sozialismus, die eigenständige Gesellschaftsform, ist mitsamt ihren Leninistischen Parteien welthistorisch verschwunden. Die andere, die in das Kapital integrierte Sozialdemokratie ächzt unter den neuen Zumutungen des internationalen Kapitalismus und steht nun als Partei vor dem Scherbenhaufen ihrer bisherigen Politik. Denn es trifft die Länder am schlimmsten, die eine besonders erfolgreiche Arbeiterbewegung hatten.
Die so genannte "Politik" mitsamt ihrem "Staat" ist weitgehend vom Kapital entmachtet. Das wusste Karl Marx, das wusste insgeheim auch Carl Schmitt, der doch den "Begriff des Politischen" gegen die indirekten Mächte des Liberalismus retten wollte. Selbst unsere politische Klasse hat davon eine dunkle Ahnung. Was spricht der Vorsitzende Müntefering? "Das Desinteresse an Wahlen, die Missachtung demokratischer Institutionen, die Politikverdrossenheit, die Diffamierung der Parteien, die Demokratieferne - dies alles hat in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen." Wo der Mann Recht hat, hat er Recht. Nur hat es wenig Sinn, dies alles dem "Kapital" zuzuschreiben; es geht ebenso sehr auf das Konto der politischen Klasse, die in ihrem alten Singsang weitermacht. Die Wähler haben längst gemerkt, dass die Politiker keine reale Macht mehr haben, und um machtlose Figuren zu wählen, stehen große Teile der Bevölkerung gar nicht mehr vom Fernsehsessel auf.
Die Sozialisten mit ihren Rezepten, die nicht von Marx, sondern von J.M. Keynes stammen, verhindern eine zeitgemäße Kapitalismuskritik. Es geht aber heute darum, sich auf eine Kapitalismuskritik jenseits des Sozialismus einzurichten.
Zunächst: Der Kapitalismus kann nicht mehr im Namen des "Sozialismus" als einer eigenständigen Gesellschaft kritisiert werden. Diese Sozialismen haben ihre begrenzten Chancen gehabt; selbst in diesem Rahmen haben sie versagt. Zum andern: Der Kapitalismus kann auch nicht mehr in der Absicht kritisiert werden, doch bitte schön ein wenig Sozialismus zuzulassen. Auch den Sozialdemokraten müsste es aufgefallen sein, dass die große Zeit der europäischen Arbeiterbewegung mit der Dominanz Europas und später des "Westens" auf den Weltmärkten einhergegangen war. Diese letzten 200 Jahre waren welthistorisch eine Ausnahmesituation; mit der globalen Vernetzung des Kapitals verschieben sich die Gleichgewichte, anders gesagt: Eine sehr viel ältere ökonomische Konstellation stellt sich wieder her. Indien und China waren lange Epochen ihrer Geschichte hindurch wirtschaftliche Giganten; nun kommen sie in kapitalistischer Form zurück. Die Zeiten, in denen sich in Europa der Reichtum der Welt aufhäufte und entsprechend umverteilt werden konnte, sind vorbei. Umverteilung war aber die historische Erfahrung und das Erfolgsrezept der SPD.
Es geht heute nicht mehr um den Sozialismus als solchen und auch nicht um ein bisschen "soziale Marktwirtschaft" im Kapitalismus. Es geht nur noch um den bestmöglichen Kapitalismus. Um ihn in seinem Funktionieren zu verstehen, kann man bei Karl Marx nachschlagen. Dass er in die Bewegung des Kapitals eine Tendenz zur revolutionären Selbstabschaffung hineininterpretiert hatte, ist heute erledigt. Der Kapitalismus ist nur er selbst und weiter nichts. Sein Ziel ist der Profit und weiter nichts. Einen tieferen Sinn hat die global gewordene Weltgeschichte vorerst nicht.
Sozialdemokratische Kapitalismuskritik hat immer versucht, dem Profit etwas anderes entgegenzusetzen: Eine solidarische Volksgemeinschaft, politisch symbolisiert in Gesetzen und Steuern. Ihr Begriff des Politischen unterschied - wie der von Carl Schmitt - nach "Freund und Feind". Freund war das Volk, Feind waren der Profit oder seine ökonomischen Charaktermasken; denken wir an den undeutschen Joseph Ackermann von der Deutschen Bank. Dabei ist die Deutsche Bank längst nicht mehr die Deutschland AG, sondern steht im europäischen Ranking (falls Unicredito und Hypovereinsbank fusionieren sollten) gerade mal auf Platz 14. National ist sie noch ein Symbol; international muss sie froh sein, wenn sie nicht eines Tages übernommen wird. Zu einem Kapitalismus pur, der sich auf dem Weltmarkt behaupten kann, gibt es auf längere Sicht keine Alternative. Das bedeutet:
Eine neue Kapitalismuskritik muss sich erst einmal mit dem Begriff des Profits anfreunden. Es ist doch gut, wenn man Freunde hat! Und wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Was wir erleben, ist die Umstrukturierung der Wertschöpfung, teils global, teils im nach Osten erweiterten Europa. Schon angesichts dieses verhältnismäßig kleinen Schrittes knirscht es in der EU, denn ein einheitlicher Wirtschaftsraum verträgt nicht zwei Lohnniveaus. Ausgleichen werden die Löhne sich erst langfristig; mittelfristig müssen die Europäer lernen, miteinander zu kooperieren, anstatt in nationale Sozialismen zurückzufallen. Nur so kann Europa der wachsenden fernöstlichen Konkurrenz überhaupt entgegentreten. Für die hier freigesetzten Arbeitskräfte ist das ein schwacher Trost. Sie sind eingeklemmt zwischen US-amerikanischer und fernöstlicher Hightech und osteuropäischen Billiganbietern.
Es ist aber gerade diese Klientel, mit der SPD und Gewerkschaften, dazu die neue Linkspartei - wie immer sie denn heißen mag - ihre machtpolitischen Spielchen treiben. Sie fordern höhere Löhne zur Ankurbelung der Binnennachfrage; auch ihnen sind die Menschen längst zu ökonomischen Funktionen geworden. Dummerweise sind die Löhne der einen die Lohnkosten der anderen; in der Folge werden noch mehr Arbeitsplätze verloren gehen. Den gut gepolsterten Oskar Lafontaine wird es nicht so hart treffen. Sichtlich genießt er das Rampenlicht der Talk-Shows.
Das ist die gegenwärtige Situation: Eine zeitgemäße Kritik am Kapital wird von unzeitgemäßen Linksparteien aufgesogen. Würden sie Marx lesen, wüssten sie zumindest, dass die vielgerühmte Produktivität der deutschen Wirtschaft die Grundbedingung der gleichzeitigen Arbeitslosigkeit ist. Vielleicht sollten sie sich einmal den Abschnitt über die "organische Zusammensetzung des Kapitals" zu Herzen nehmen; dort steht dann auch etwas über die "industrielle Reservearmee" - so nannte Marx die durch den erhöhten Einsatz von Maschinerie arbeitslos gewordenen Arbeiter. Zur Orientierung: Das steht MEW, Band 23, im 23. Kapitel. Auch die Seite 459 könnten sie sich einmal ansehen; dort ist vom Einsatz der Maschinerie als Kampfmittel gegen Streiks und Lohnforderungen die Rede. Dabei konnte sich Marx den heutigen Grad der Rationalisierung und Automatisierung natürlich nicht vorstellen. So aber jammert die "Linke" über einen Exportweltmeister, der gleichzeitig unter hoher Arbeitslosigkeit leidet, anstatt über die Folgen der jahrzehntelangen Hochlohnpolitik der Gewerkschaften nachzudenken. Es war alles so einfach: Jeden Herbst drehte sich die Lohnrunde - und für die Arbeitslosen kam der Sozialstaat auf. Kommt er aber nicht mehr; die Zeiten sind vorbei.
In der Globalisierung ist zuerst der "Sozialismus" des Ostblocks untergegangen; jetzt zerbrechen die westeuropäischen sozialistischen Parteien am gleichen Phänomen. Das Erstaunen, dass eine Traditionspartei wie die SPD in der Krise steckt, ist das Staunen am falschen Platz: sie steckt nicht trotz, sondern wegen ihrer Tradition in der Krise. Es geht nicht darum, diese Vorgänge neoliberal zu verherrlichen. Mit Freiheit, Selbstbestimmung der Individuen und dergleichen, hat all das nicht das Geringste zu tun. Die liberalen Phrasen sind noch verkommener als die sozialistischen. Was wir erleben, ist der Anbruch einer neuen Knechtschaft. Niemand hat das schöner ausgedrückt als Karl Marx. Das Aufeinanderstoßen der sogenannten "freien Individuen" produziert eine über ihnen stehende "fremde gesellschaftliche Macht."
Knechtschaft erzeugt Leidensdruck. In welche organisatorischen Formen sich dieser Leidensdruck ergießt, ist noch offen. Als Faustformel kann gelten: Je weniger Menschen hinter den neuen Demagogen herlaufen, desto besser.
Was immer möglich bleibt, ist ein Aufbruch zu neuem Denken. Es hat den Reiz, wieder ganz von vorn anfangen zu dürfen. 150 Jahre Deutscher Sozialismus sind vorbei.
Heinz Dieter Kittsteiner ist Professor für Vergleichende europäische Geschichte der Neuzeit an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder.
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