Das ist keine Bummelfahrt

Klischee-Killer Besser spät als nie: Nach 80 Jahren liegt John Dos Passos’ Reisebericht „Orient-Express“ nun endlich auch auf Deutsch vor
Ausgabe 12/2013

Es ist nicht die beste Zeit, die sich John Dos Passos für seine Reise ausgesucht hat: Im Juli 1921 kommt der 25-jährige US-Schriftsteller nach einer Bahnfahrt durch Europa in Istanbul an. Hier erlebt er die unmittelbaren Folgen des Ersten Weltkriegs: Die osmanische Hauptstadt ist von den Alliierten besetzt. Es herrscht ein „Durcheinander vieler verfeindeter Sprachen“. Noch ist nicht entschieden, ob Istanbul den Griechen oder den Türken zufallen wird. Kriegsgewinnler leben neben hungernden Menschen. „Weiße“ Russen, die nach der Niederlage gegen die Rote Armee aus der Heimat geflohen sind, verdienen sich hier das „harte Brot des Exils“.

Das Goldene Horn ist Ausgangspunkt von Dos Passos’ Orient-Express, der erstmals 1927 erschien und jetzt endlich auf Deutsch vorliegt. Wie in Manhattan Transfer (1925) nutzt Dos Passos auch hier die Montagetechnik, um die oft konträren Meinungen wiederzugeben – Meinungen, die man im Westen selten so offen hört: „Wir haben Ihrem Mister Villson geglaubt ..., wir wollen einfach in Ruhe gelassen werden und unser Land in Frieden neu aufbauen. Wenn ihr an die Rechte kleinerer Nationen glaubt, warum habt ihr dann zugelassen, dass die Briten die Griechen auf uns hetzen?“, fragt ihn ein türkischer Militärarzt auf der Schiffsreise nach Trabzon.

Für den Schriftsteller ist die Region kein Neuland. 1912 fährt er mit seiner Mutter nach Ägypten und verbringt auf der Rückreise mehrere Tage in Istanbul. Orient-Express beruht auf zwei Reisen, die er 1921 in die Türkei, den Kaukasus, Iran, Irak und Syrien sowie 1926 nach Marokko unternimmt. Insbesondere die erste Reise ist sehr dicht und flüssig geschildert, zumeist in szenischen, dialogreichen Abschnitten.

Ich weiß, was ich weiß

Im Kaukasus, der kurz zuvor von Truppen der Bolschewiki eingenommen worden ist, nimmt Dos Passos die Folgen des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution als besonders dramatisch wahr: Menschen sterben in Massen vor Hunger, und jene, die noch etwas besitzen, verkaufen „Dinge, die bis 1917 die Grundlage ihrer Existenz gewesen waren“. Anders stellt sich für ihn der Iran dar: „Alles geht eigentümlich ruhig und unaufgeregt vonstatten.“ Ein iranischer Sayyid, ein Nachfahre des Propheten Mohammed, der im Ausland Medizin studiert hat, begleitet Dos Passos nach Teheran. Seine Ansichten über die westliche Politik klingen auch mehr als 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung aktuell: „Ich habe alle Länder gesehen, habe ihre Propaganda gehört. Ich habe gesehen, welche Schmiergelder sie bezahlen und mit welchen Methoden sie kämpfen, all die hochzivilisierten, vornehmen Völker Europas. Und ich weiß, was ich weiß. Und was ich weiß, das wissen auch der Maultiertreiber und der Töpfer und der Bademeister, der einen durchwalkt, und der Bauer und der Nomade.“

In Situationen wie dieser überkommt den Schriftsteller „eine Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es ja selbst im Orient wimmelt“. Scharfsinnig seziert er den westlichen Blick, etwa wenn er schiitische Pilger aus dem Iran beschreibt, die nach der Einreise in den britisch kontrollierten Irak „ihre Fröhlichkeit, die Würde ihrer Gesichter und Bewegungen, die Eleganz ihrer Lumpen und ihrer hohen Filzhüte“ verlieren, um sich in „gesichtslose Kipling’sche Eingeborene“ zu verwandeln.

Dos Passos macht auf seiner Reise eine Erfahrung, die Anfang des 20. Jahrhunderts viele westliche Besucher teilen: Ihr Bild vom Orient als Wiege der Zivilisation und Märchenland aus Tausend und einer Nacht hat mit der Realität wenig zu tun. Die Region erlebt Umwälzungen, die der Erste Weltkrieg beschleunigt: „Der Westen ist auf dem Vormarsch, Henry Fords Evangelium von Arbeitsteilung und Standardisierung wird Herzen gewinnen.“

Dos Passos schildert keine Bummelfahrt, sondern einen Weltteil, der nicht zur Ruhe kommt. Die heutigen Konflikte, das wird klar, haben ihre Wurzeln in jener Epoche. Briten und Franzosen beuten Öl aus, ziehen willkürlich Grenzen und schaffen neue Konflikte. Die Russen ersticken die Unabhängigkeitsbestrebungen im Kaukasus.

Orient-Express leiht den Menschen einer Reportage gleich eine Stimme, ihre (Selbst-)Kritik, Sorgen und Nöte zu äußern. Am Ende geht es dem Leser wie Dos Passos mit Blaise Cendrars, über dessen Roman Gold er im Reisebericht anerkennend schreibt: „Alles ist so schnell vorbei, dass man es gleich noch einmal lesen muss, weil man befürchtet, etwas übersehen zu haben.“

Orient-Express John Dos Passos Matthias Fienbork (Übers.), Nagel & Kimche 2013, 208 S., 18,90 € Behrang Samsami hat über Orientreisen promoviert

Es ist nicht die beste Zeit, die sich John Dos Passos für seine Reise ausgesucht hat: Im Juli 1921 kommt der 25-jährige US-Schriftsteller nach einer Bahnfahrt durch Europa in Istanbul an. Hier erlebt er die unmittelbaren Folgen des Ersten Weltkriegs: Die osmanische Hauptstadt ist von den Alliierten besetzt. Es herrscht ein „Durcheinander vieler verfeindeter Sprachen“. Noch ist nicht entschieden, ob Istanbul den Griechen oder den Türken zufallen wird. Kriegsgewinnler leben neben hungernden Menschen. „Weiße“ Russen, die nach der Niederlage gegen die Rote Armee aus der Heimat geflohen sind, verdienen sich hier das „harte Brot des Exils“. Ich weiß, was ich weiß Orient-Express John Dos Passos Matthias Fienbork (Übers.), Nagel & Kimche 2013, 208 S., 18,90 € Behrang Samsami hat über Orientreisen promoviert

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Geschrieben von

Behrang Samsami

Freier Journalist und Autor | promovierter Germanist | #Iran

Behrang Samsami

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