„Das ist magisch“

Read and Meet Erst die Bücher lesen, dann die Autoren treffen und mit Fragen löchern. Diesmal Roger Willemsen
Ausgabe 32/2013
„Das ist magisch“

Foto: Martin Leissl / laif

Berlin-Kreuzberg. Ein schöner Sommerabend im Engelbecken-Hof. Die Freitag-Blogger Goedzak, kay.kloetzer und Calvani haben Momentum und weitere Werke von Roger Willemsen gelesen. Der Autor selbst ist auch da. Es folgt ein Werkstattgespräch über das Schreiben.

Carmen Calvani: Roger, ich beneide dich darum, dass es dir gelungen ist, diese Momente aus deinem Leben zusammenzutragen und auzuschreiben.

Roger Willemsen: Danke.

Calvani: Ich will das kurz ausführen. Ich bin jetzt in das Haus gezogen, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe, und der Umstand, dass meine Eltern schon tot sind, spielt sicher eine große Rolle. In den letzten zwei Jahren blitzen immer wieder Bilder aus meiner Kindheit auf. Bunt und schillernd, mit einer Intensität,

die wirklich dazu nötigt, darin zu verweilen und ihnen nachzuschmecken. Ich habe das aber noch nie aufgeschrieben, weil ich Angst habe, mich darin zu verlieren, überwältigt zu werden. Kennst du diese Angst?

Willemsen: Ja, ich kenne sie. Was ich aber auch kenne: das Herstellen von Genauigkeit hat etwas von einem Objektivierungsprozess. Du hast plötzlich eine literarische Gestalt, und in dieser Gestalt ist etwas fast versachlicht, so sentimental es auch ist. Insofern ist das auch der Versuch, etwas zu bannen, was auf keine andere Weise für mich bannbar ist.

Calvani: Dann bleibt aber immer noch die Fülle des Materials. Dafür, dass es ja nur aus einzelnen Momenten besteht, ist Momentum sehr dick geraten, wenn ich das sagen darf. Allein diese Fülle würde mir Angst machen.

Willemsen: Schreiben, das sage ich jetzt so unpathetisch wie möglich, ist für mich tatsächlich eine Lebensform. Das heißt, ich schreibe, seit ich schreiben kann, und ich kommentiere alles. Ich habe permanent Notizbücher bei mir; das Schreiben ist wirklich die Existenzform, in der ich mehr zu Hause bin als in jeder anderen. Du musst dir also vorstellen, dass ich ein paar tausend Seiten Notizbücher zu Hause habe und dass sich aus denen etwas herauspräpariert.

Szenen, von denen ich sage, die sind unvergesslich, die sind unauslöschlich. Ich bin mir nicht mal sicher, dass ich die gewählt habe, vielleicht haben sie ja mich gewählt. Die normale Biografie verliert viel Zeit und ist unökonomisch, indem sie immer so tut, als sei alles gleichermaßen erfahren worden. Mich interessiert wie bei einem Stroboskop eigentlich nur das, was tatsächlich erfahrbar war.

Calvani: Nicht nur Momentum, auch das vorherige Buch Die Enden der Welt war eine Sammlung solcher Momente. Wie kommt es, dass du jetzt aufsammelst, was du schon früher notiert hast?

Willemsen: Im Grunde ist es sogar eine Trilogie. Der Knacks war das erste Buch dazu, das war ein reflektierendes, aber mehr noch ein autobiografisches Projekt. Eines kann ich sagen: Jetzt ist erst mal Schluss. Die Trilogie ist abgeschlossen. Es war das letzte Mal, dass ich mich mit autobiografischem Buchmaterial beschäftige, weil ich mich daran erschöpfe.

Ich habe zu dem Projekt Autobiografie gesagt, was ich sagen will. Ich würde niemals mein Leben einer Leserschaft als wichtig oder als wissenswert andienen – was ich in allen drei Büchern auf unterschiedliche Art und Weise will, ist vielmehr das: dieses Leben für die Leserschaft fruchtbar machen, Impulse aussenden, die sich bei denen fortsetzen, die es lesen und dann hoffentlich denken: Oh, so könnte ich mit meinem Leben umgehen.

Calvani: Geht das auf?

Willemsen: Nach allem, was ich jetzt auf der Lesereise erlebe, die ich so halb erzählend, halb lesend anlege, geht das auf. Es ist erstaunlich, was an Rückmeldung, an Momenten wieder zu mir fließt. Ich wünschte mir, es gäbe 100 Bücher, die Momentum heißen, und nicht ich hätte sie geschrieben, sondern du hättest sie geschrieben, weil mich das unheimlich interessiert. Entstanden ist das Buch eigentlich aus der Situation, dass ich viel mit jungen Menschen zu tun hatte, die gesagt haben: „Ich würde gerne schreiben“. Wenn ich dann fragte: „Was soll es denn sein?“, kam die Antwort: „Ja, ich weiß nicht recht.“

Schreiben ist ein Metier, das gelernt sein will, also riet ich: „Fang mal an und schreib von jedem Tag den konzentriertesten Augenblick, betreibe das mal einen Monat und dann zeig mir die Resultate.“ Keiner hat das gemacht. Keiner. Dann dachte ich, entweder sind die faul oder es ist so schwer. Und dann habe ich selber angefangen, habe geschrieben und gesammelt, zweimal habe ich die Notizen weggelegt und gedacht, das ist nicht schreibbar, so ein Scherbenhaufen von Szenen. Und dann hatte es mich beim Wiederlesen doch gepackt.

Calvani: So ist es auch bei mir angekommen. Eine praktische Frage: Du hast immer dein Notizbuch dabei. Wie oft zückst du es? Und wann? Hast du ein Ritual? Machst du das immer abends zum Beispiel, oder setzt du dich spotan hin, weil du denkst: Das muss ich sofort aufschreiben?

Willemsen: Schöne Frage, weil es eine Insiderfrage ist. So etwas fragen nur Leute, die selber schreiben. Es gibt kein Ritual, keinen festen Zeitpunkt. Ich zücke das Notizbuch nach meinem Verständnis zu wenig, ein Erlebnis ist leider oft nicht prägnant genug, um aufgeschrieben zu werden. Es schwirrt ein Satz am Nebentisch vorbei, den notiere ich dann, weil ich ihn nicht erfinden könnte. Aber eine bizarre Szene mit dem Taxifahrer notiere ich nicht, weil sie ein Déjà-vu beinhaltet, irgendetwas hat, das ich bereits gelebt habe. Meine Eintragungen in diese Notizbücher werden eher weniger. Der Anspruch ist ein anderer als früher. Wenn man früh beginnt zu schreiben, tut man das nicht zuletzt aus selbsttherapeutischen Gründen. Und irgendwann hast du Liebeskummer und du schreibst ihn nicht mehr auf, weil er dir selber peinlich ist.

Calvani: Das stimmt. Ich dachte, das ginge nur mir so. Ich dachte, vielleicht schreibt man mehr, wenn man älter wird.

Willemsen: Geht dir also auch so? Du schreibst weniger?

Calvani: Viel weniger. Seit dem Tod meiner Mutter fast gar nicht mehr, ohne dass ich sagen könnte, wie das miteinander zusammen hängt.

Willemsen: Und diese Déjà-vus, die du hast, die lösen nicht in dir den Wunsch aus, sie fest-zuhalten?

Calvani: Doch, schon, aber ich traue mich nicht. Anfangs haben mich diese Erinnerungen richtig überfallen, mir fielen Dinge und Details ein, von denen ich nicht für möglich gehalten hätte, dass ich mich daran nach so langer Zeit noch erinnere.

Willemsen: Geweckt durch Gerüche? Durch Tapetenmuster?

Calvani: Manchmal liege ich einfach nur im Bett und schaue aus dem Fenster und erinnere mich dann an ein anderes Fenster. Manchmal braucht es gar keinen konkreten Auslöser, was die Sache für mich noch unberechenbarer macht. Ich habe deshalb, auch wenn das pathetisch klingt, darunter gelitten, weil die Bilder aus dem Nichts kamen. Vielleicht hast du recht, wenn ich angefangen hätte, das aufzuschreiben, hätte das vielleicht …

Willemsen: … einen Bann ausgeübt.

Calvani: Du musst doch Berge dieser kleinen Notizbücher haben, oder?

Willemsen: Ja. Das ist so. Wenn du mich jetzt fragst, wie hieß eine Limonade in Kanton in den achtziger Jahren …

Calvani: … dann weißt du das.

Willemsen: Genau.

Calvani: Und weißt du jeweils auch genau, in welchem Notizbuch du das findest?

Willemsen: Ja. Die Notizbücher haben alle auf der ersten Seite eine Jahreszahl, sie sind durchlaufend nummeriert und sie haben eine Ortsangabe. Da steht dann: „China 1986“ oder so. So kann ich das dann finden.

Calvani: Es wäre bei mir völliger Unsinn, wenn ich ins Tagebuch immer eine Ortsangabe schreiben würde. Bei dir ergibt das natürlich Sinn. Okay, du hast dich also den Bildern genähert, du hast sie aufgeschrieben, und dann fängt ja irgendwann die Auslese an. Wie gehst du da vor?

Willemsen: Bei den Enden der Welt hatte ich es leichter, weil die Reisen das Material einzirkeln. Ich bleibe dir die Antwort etwas schuldig, weil ich eine leichte Verlegenheit habe. Ich kann sagen, was rausfiel, nämlich, was schon woanders stand. Und ich habe bei allen Situationen noch mal nach dem Prägenden gefragt. Nach dem, was manchmal eine poetische Verdichtung hatte. Was mir grotesk vorkam. Oder die Ebene wechselte.

Idealerweise wäre der Text eine kubistische Plastik, bei der jede Fläche anders beschienen wird, eine andere Farbe oder Textur hat. Darin gibt es natürlich motivische Zusammenhänge, aber die muss man nicht erkennen.

kay.kloetzer: Ich muss gestehen, ich habe mich beim Lesen des Buchs gefragt: Steht das wirklich so in den Notizbüchern oder ist das die literarische Form, die daraus entstanden ist? Ich habe sie deshalb als Notizen manchmal nicht ganz geglaubt, dachte vielmehr, das sind Tagträume, Dinge, die man sich vorstellt, wenn man eine bestimmte Situation erlebt, also durchaus mit Fiktion durchsetzt.

Willemsen: Genau! Ich verstehe diese Irritation, aber wir werden uns sicher schnell einig, dass in dem Augenblick, in dem man etwas, das passiert, genau formuliert, dieses Etwas plötzlich literarisch wird, sogar etwas Fiktives bekommt.

kay.kloetzer: Und die Notizen stehen wirklich in der Form da, wie man sie jetzt in dem Buch lesen kann?

Willemsen: Nein, ich habe sie nicht einfach abgeschrieben. Da ist zum Beispiel der Dialog mit dem Kellner in Turin, und nun fällt mir beim Wiederlesen ein, was die Szene für eine Dramaturgie hatte. Plötzlich gibt mir die Erinnerung neues Material. So kam in diesem Beispiel die Architektur dazu, die nicht im Notizbuch stand. Insofern gibt es eine Fiktionalisierung, aber auch eine größere Präzision.

kay.kloetzer: Das heißt, Sie haben erst beim poetischen Verdichten gemerkt, was Sie sich damals aufgeschrieben haben?

Willemsen: Manchmal hat man eine Art Witterung für eine Szene. Das ganze Buch ist ja im Präsens geschrieben, es gibt keine Szene, die nicht in die unmittelbare Gegenwart geführt wird. Schon das ist ein Akt der Literarisierung, weil ich damit ja auch andeute, dass ich die Szene aus der Vergangenheit in die Prägnanz des Augenblicks hole.

kay.kloetzer: Haben Sie eigentlich Vertrauen in Ihre Erinnerung?

Willemsen: Ja, aber ich habe Angst um sie. Es wäre ein interessantes Experiment, zu sehen, wie komplett unterschiedlich die Texte ausfielen, falls wir alle diese Szenerie hier an diesem Tisch beschreiben würden. Der eine würde das Licht beschreiben, der Nächste den Hall …

Calvani: Warst du jemals versucht, deine Momente mit fiktiven Episoden zu verbinden oder zu füllen?

Willemsen: Die Antwort ist: Ja. Versucht, ja. Und es kommt auch vor, dass zwei Quellen in eine geflossen sind. Das ist allerdings eine Tätigkeit, die unser Erinnerungsvermögen auch leistet. Dass dir plötzlich jemand sagt, die Szene war aber anders. Entscheidend ist eigentlich die Prägnanz, die die Szene in mir behalten hat. Entscheidend ist nicht unbedingt, ob sie im Abgleich mit den Fakten noch mal genauso aussähe. Bis auf die Montage gibt es keine fiktiven Elemente.

Calvani: Wie verändert sich deine Wahrnehmung des Textes durch diese ständige Beschäftigung mit ihm? Wenn man so ein Hörbuch einspricht, wie nun geschehen – gibt es dann Szenen, die du anders liest, als du sie geschrieben hast, oder die du anders fühlst, als du sie geschrieben hast?

Willemsen: Das ist so. Ich muss mich auf der Bühne manchmal gegen die eigene Sentimentalität wehren, weil mir bestimmte Dinge sehr nahe gehen. Die Wiederholung nimmt dem nichts, sondern vertieft das eher noch. Ich habe manchmal Angst vor dem Schluss der Lesung, die Lesung endet mit dem Allerletzten, und das muss auch sein, und so kommt dann am Ende das sterbende „Weiter!“.

Wenn du gut lesen willst, musst du einfach in die Szene wieder zurück. Deshalb sagte ich, die Frage ist eine sehr sensible. Gleichzeitig entsteht dabei eine permanente Reibung zur Außenwelt, ich erinnere mich, als ich Der Knacks mit meiner Hörbuchverlegerin einlas, gab es eine Szene, in der mein Vater stirbt. Ich bringe ein Huhn zurück, und später steht meine Mutter an der Garderobe und sagt: „Der Vater ist tot“ – und dann sagt die Hörbuchverlegerin, die wirklich eine gute Freundin ist, durchs Mikro: „Roger, bitte noch mal: ,Der Vater ist tot‘“. An solchen Stellen merkst du, dass die einen eben auf der Textebene bleiben und du das nicht kannst. Da ist die Bühne noch entlarvender als das Hörbuchstudio. Wenn du hier auf der Textebene bleibst, merkt das Publikum das sofort, und dann kann man nebenbei noch einen Einkaufszettel schreiben.

Goedzak: Also, das mit dem Einwurf „Der Vater ist tot“ hätte mir auch passieren können, weil es für mich halt auch ein Text ist. Wenn ich einen Roman lese, dann habe ich ja als Leser immer auch den Eindruck, ich gucke in ein fremdes Leben rein. Und das habe ich bei Ihrem Buch eigentlich auch, nur dass es eben nicht fiktiv ist. Ich habe auch eine Distanz dazu, weil mein Leben anders verlaufen ist, unspektakulärer, mit viel weniger Reisen verbunden zum Beispiel. Aber dann hat es doch wieder etwas mit meinem Leben zu tun. Und zwar über die Form. Dieses fragmentarische Splitterprinzip, wenn man so sagen kann, fand ich sehr interessant, es entspricht meiner Art, mein Leben zu begreifen. Ich empfinde es als ziemlich alltäglich und unspektakulär und lebe es trotzdem gerne. Ich find’s spannend.

Willemsen: Gute Voraussetzung.

Goedzak: Manchmal fragt man sich natürlich: Lebe ich denn richtig? Oder: Warum lebe ich nicht mehr? Dieses Auflösen eines Lebens in Momente – vielleicht ist das ja die Rehabilitation des Unspektakulären und ein Infragestellen des Anspruchs, dass jeder in seinem Leben etwas Großes leisten soll. Wir leben ja in einer Kultur, die uns alle darauf trimmt, so zu denken. Ich freue mich über einen Versuch, diesen Alltagsmoment zu rehabilitieren und zu sagen: Du musst gar nichts. Du musst gar keine Bäume ausreißen. Dein Leben ist gut. Du musst eben nur, wie Sie an anderer Stelle gesagt haben, dich vergegenwärtigen.

Willemsen: Ja, genau. Das ist eigentlich der Schlüssel. Ich habe dafür alles rausgenommen, was mich als Autor, Interviewer oder Fernsehmenschen erkennbar machen würde. Da kommt kein Arafat, kein Dalai Lama, keine Madonna vor. Alle diese Dinge, die mich irgendwie in dieser Hinsicht festhalten. Oder der Afghanische Frauenverein oder Amnesty.

Ich würde sogar, genau auf der Spur dessen, was Sie sagen, meinen, manchmal ist es mir fast unangenehm, dass die Schauplätze Sibirien heißen oder Nepal, weil ich eigentlich den Mehrwert nicht haben will, der darin besteht: Oh, da ist er jetzt aber wieder weit gereist! Wenn es Recklinghausen wäre und die Szene würde da passieren, wäre mir das recht. Genau wie Sie sagen, lieber etwas vergegenwärtigen im Unscheinbaren, im Unspektakulären.

Goedzak: Sie haben einmal in einem Interview eine Episode erzählt, die Ihnen damals gerade passiert war. Eine eigenartige Rückerinnerung an Ihr Leben vor 20 Jahren …

Willemsen: Oh ja, ich weiß, was kommt.

Goedzak: Das mit der Band in London, die sich auflöste, und Sie haben das letzte Konzert mitangesehen und wollten unbedingt noch ein Tondokument davon haben und haben es 20 Jahre später in Edinburgh gefunden. Und als Sie sich diese Live-Aufnahme anhörten, hörten Sie jemanden rufen: „More!“, und das waren Sie.

Willemsen: Genau, genau!

Goedzak: Es ist ja bezeichnend, dass Ihnen solche Sachen dann zufallen.

Willemsen: Ja, das ist auch wirklich ein bisschen magisch.

Goedzak: Solche Geschichten sind, finde ich, abgesehen davon, dass es in diesem Fall nun London in einer Hochzeit der Popmusikentwicklung war, ja doch etwas Alltägliches. Solche Dinge zu erzählen, ist auch ein Grund für mich, Blogs zu schreiben. Ich habe das erlebt, allerdings nicht mein Leben betreffend, sondern fremde Leben, indem ich angefangen habe, Ansichtskarten zu sammeln. Und ich finde eines Tages zwei Ansichtskarten, die zusammenhängen, Karte 1 und Karte 2. In den dreißiger Jahren aus Binz an der Ostsee schreibt ein Mann an seinen Vater, und da gibt es ein paar Anspielungen auf die Ufa und eine Filmverleihfirma in den dreißiger Jahren, dass es da irgendwelche Probleme mit Vertragsabschlüssen gäbe und mehr nicht.

Dann habe ich aber aufgrund des Namens dessen, der die Karte geschrieben hat, und des Adressaten, der sein Vater war, ein bisschen gegoogelt und habe einen Kinobetreiber gefunden, der in den späten Dreißigern und frühen Vierzigern an der Oder irgendwo ein Kino betrieben hat bis zum Kriegsausbruch, wo das dann geschlossen wurde. Und er 1950 dann irgendwo nach Westdeutschland geflohen ist. Und aufgrund dieser beiden Ansichtskarten mit den unscheinbaren Äußerungen entdeckt man plötzlich ein fremdes Leben, und das ist wirklich faszinierend.

Willemsen: Ich habe das eine Zeit lang betrieben, indem ich Zettel aller Art aufgehoben habe, die ich auf der Straße fand. Und jeder fügte sich sofort zu Geschichten. Ich erinnere mich, dass ich in Bonn am Rhein entlang ging mit einer Frau, die sagte: „Was hast du immer mit deinen Zetteln, was soll das?!“ Und ich pickte den nächsten Zettel, an dem ich vorbeiging, auf, las den, und gab ihn ihr. Sie hat die Frage nie wieder neu formuliert, denn auf dem Zettel stand: „Sehr geehrter Herr Post, ich habe mich entschlossen, Ihnen morgen um 9:15 Uhr die Fresse zu polieren.“

kay.kloetzer: Du hast mich auf eine Frage gebracht, Goedzak, ich wüsste nämlich gerne: Herr Willemsen, schicken Sie eigentlich Ansichtskarten von Ihren Reisen nach Hause?

Willemsen: Ich habe ein einziges Mal eine Karte, auf der zwei Sumoringer zu sehen waren, verschickt. Die habe ich meinem besten Freund nach Berlin geschickt, und ich bekam daraufhin einen Anruf von ihm. Er sagte mir, dass er zur selben Zeit am selben Ort im selben Viertel war. Da habe ich zu ihm gesagt: Ich denke, wir sollten unsere Termine besser koordinieren.

Read and Meet: Was wir wollen, wer wir sind

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel herausgucken, soll Lichtenberg gesagt haben. Warum eigentlich nicht? Wer im Glauben an solche Gesetzmäßigkeiten an ein Buch herangeht, bringt sich um die Möglichkeit, nach der Lektüre eine andere oder ein anderer zu sein. Vor der Lektüre des hier besprochenen Buches waren wir drei LeserInnen. Die eine las nie in der Wanne, die andere schrieb Texte über Texte und Theater, der dritte trug ständig Hüte und merkwürdige Schuhe. Anders gesagt: Eine angehende Juristin, eine Zeitungsredakteurin und ein Dozent im Fachbereich der Ästhetik, genannt Calvani, kay.kloetzer und Goedzak. Keiner von uns dreien wohnt in Berlin, wir kommen aus dem tiefen Westen und aus dem tiefen Osten. Uns eint das Viel-, Gern- und Kritischlesen – und die Skepsis gegenüber dem Literaturbetrieb. In der Summe ergibt das eine rege Tätigkeit in der Community des Freitag, sowohl als Soloblogger wie auch vereint. Denn auch diesmal waren wir nach der Lektüre drei LeserInnen, die sich dachten: Kommt der Berg auch nicht zum Propheten, so muss der Affe doch immer noch zum Apostel gehen. Und das nicht zum ersten Mal.In unserer Reihe ist schon ein Gespräch erschienen, das wir mit Ingo Schulze geführt haben, nachzulesen auf freitag.de.

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