Das ist uns wichtig

Debatte Wir schreiben über viele Themen, aber einige Fragen haben uns besonders beschäftigt. Ein Überblick über die Konstanten des „Freitag“
Ausgabe 45/2020

Zwischen Krieg und Frieden

Es war eine Art Gründungsschock für den Freitag, dass schon Anfang 1991 der erste Krieg nach dem Kalten Krieg, gegen Saddam Husseins Irak in Gang gesetzt wurde. Wir hatten die Wiederkehr der brutalen Bilder nicht erwartet. „Déja-vù“ hieß der Leitartikel, den ich damals schrieb. Und es ging weiter: jugoslawischer Bürgerkrieg, Kosovo-Krieg, Afghanistan, Irak, die Intervention in Libyen. Überall war der Westen beteiligt, fast immer militärisch und bald ohne UN-Auftrag. Wir sahen eine Linie: Nachdem die Sowjetunion besiegt war, wollte die NATO alles zerschlagen, was dem Sozialismus auch nur ähnelte. Man wollte mit Feinden fertigwerden, die man selbst herangezüchtet hatte. Dieser Prozess hat seinen Höhepunkt vielleicht noch gar nicht erreicht. Michael Jäger

Krach der Deutschen

Exzessive Wutausbrüche nebst Rundumschlag sind dem Freitag als Debattenformat von Redaktionssitzungen leider abhandengekommen. Das Alter lässt reifen. Noch in den 90ern wurde weniger der Diskursbrei gequirlt, als nach der Devise gestritten, je kontroverser es ausfällt, desto produktiver kann es ausgehen. Waren „innerdeutsche Grenzen“ das Thema, konnte das zu Serien wie „Krach der Deutschen“ führen. 1991 und erneut 2005 gab die Redaktion Autorinnen und Autoren aus West und Ost Raum und Zeit, um zu erfahren, was alles an Fremd- und Feindbildern vorgehalten wurde, um Vorurteil und Ressentiment zu pflegen. Fazit des Schlagabtauschs: Auf beiden Seiten musste die Einheit als Kulturschock verarbeitet werden. Lutz Herden

Geld ausgeben ist billiger als Sparen

Die alternative Wirtschaftspolitik ist wie die Probe aufs Exempel des Linksseins. Ein Blatt wie der Freitag sollte nicht nur behaupten, dass die Verhältnisse anders besser wären, sondern auch zeigen: Wie das möglich wäre. Das reicht von der Kritik am volkswirtschaftlichen Mainstream, an den Dogmen der Schwarzen Null und der Austeritätspolitik bis hin zum positiven Entwurf von Alternativen, von der Forderung nach Enteignungen bis zu utopischen Entwürfen von Post-Wachstum und post-kapitalistischem Wirtschaften. Was die Kritik an der Schwarzen Null angeht, kann man sagen: Früher galt man als verantwortungslos, aber wenn Olaf Scholz in Corona-Zeiten Rekordschulden macht, ist das neuerdings visionär: Weil Sparen teurer käme. Na also, geht doch. Pepe Egger

Es können nicht alle kommen. Oder doch?

Als ich im 2018 beim Freitag anfing, platzte ich in muntere Redaktionssitzungen hinein. Der Riss, der durch die gesamte Linke ging, durchzog auch die Redaktion: Wie hält man es mit der Flüchtlingspolitik? Sahra Wagenknecht war gerade dabei, die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ zu gründen, der Satz „es können nicht alle kommen“ waberte über die Gänge, bis am Konferenztisch nicht mehr gestritten, sondern gebrüllt wurde. Wir erschraken. Und versuchten, den Konflikt konstruktiv zu lösen. Im Juli druckte die Zeit ein Pro und Contra zur Seenotrettung. Die Grenzen der Meinung wurden deutlich. Und unsere Debatten pragmatischer: Wie lässt sich eine solidarische Asylpolitik konkret lokal gestalten – und: Was gibt es sonst noch Wichtiges in der Innenpolitik? Elsa Koester

Debatten führen statt Cancel Culture

In einem Punkt haben konservative Twitter-Mimosen wie Ulf Poschardt recht: Was Debatten angeht, setzen die Linken die Trends. In der Regierungspolitik dominieren Sozialabbau und Pflegenotstand, doch Themen wie Rassismus und Sexismus sind Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Darum sehen einstige Tonangeber ihre Deutungshoheit schwinden. Ständig polemisieren bürgerliche Medien gegen „Political Correctness“ oder „Cancel Culture“, während die linksliberalen Gegenstimmen ebenso einseitig dagegenhalten. Dass Debatte vor allem bedeutet, Widersprüche auszuhalten, das zeigen wir seit Jahren. Mit Beiträgen von so unterschiedlichen Stimmen wie Daniela Dahn und Stefan Niggemeier, Bernd Stegemann und Sophie Passmann. Christian Baron

Mit Assange auf der großen Bühne

Seit dem Relaunch 2009 ist der britische The Guardian unser Partner. Für uns bedeutete diese Kooperation unter anderem, dass wir ganz vorne mit dabei waren, als 2010 Wikileaks und Julian Assange die große Bühne der Medienwelt betraten: „Cablegate“. Tausende Botschaftsdepeschen wurden veröffentlicht, die die USA gehörig unter Druck setzten. Und wir waren plötzlich irgendwie mittendrin, Nachtschichten schiebend, um unseren Leser*innen zu erklären, was da eigentlich gerade passiert war – nämlich Weltbewegendes. Ein paar Jahre später erschütterte Edward Snowden die USA mit der NSA-Affäre. Den Freitag haben diese beiden Fälle maßgeblich geprägt. Aufklärung im Zeitalter der Digitalisierung ist seitdem eines unserer Hauptanliegen. Jan Jasper Kosok

Unvorbereitet in die Coronakrise

Epidemien haben den Freitag zeit seines Bestehens begleitet, auch wenn nicht alle gleichermaßen wahrgenommen wurden: Doch mit dem SARS-Ausbruch 2002, der Vogelgrippe H5N1 zwei Jahre später und schließlich MERS und Ebola war die Wiederkehr der Seuchen unleugbar geworden, und wir haben kontinuierlich auf unserer Wissenschaftsseite darüber berichtet. Experten warnten schon damals vor einer weltweiten Epidemie. Die Politik blieb weitgehend taub, sparte das Gesundheitssystem kaputt, und so schlitterten wir unvorbereitet in die heutige Krise. Seit einem halben Jahr steht „das Virus“ nun uneinholbar an der Spitze unserer Agenda. Nie war ich so von der Jetztzeit gefangen und dem Gefühl allgemeiner Vergangenheitsvergessenheit.Ulrike Baureithel

Populistisch, links, gut?

Mit dem weltweiten Aufstieg des Rechtspopulismus stellte sich automatisch die Frage nach einem linken Populismus. Und da das Erstarken des Rechtspopulismus mit den großen Migrationsbewegungen zu tun hat, sind die Haltungen eines linken Populismus für kosmopolitische Milieus eine Zumutung. Zu spüren bekam das Sahra Wagenknecht, die für linken Populismus offen war. Unterstützt wurde sie von Jakob Augstein, der ihr zwar recht gab, aber auch fragte: „Das große Rätsel – wie reitet man den populistischen Tiger, ohne ihm selber zum Opfer zu fallen –, kann Wagenknecht es lösen?“ Zur Lösung des Rätsels organisierten wir eine Debatte, in der die Ideen von Chantal Mouffe mit den Bedenken eines Albrecht von Lucke kollidierten. Michael Angele

Angela Merkel macht alles kaputt

Ich habe nachgezählt: 25-mal haben wir Angela Merkel seit Regierungsantritt 2005 auf unserem Titel gezeigt. So oft wie niemand sonst. Mal ging es um den U-Turn beim Atomausstieg, später um die „ewige Angie“ oder um die Neuauflage der Großen Koalition. Die Titelbilder wechselten, aber eine Kritik blieb als Konstante: dass die Kanzlerin mit ihrem moderierenden Politikstil den Diskurs in Deutschland nachhaltig beschädigt hat. Denn nichts scheut Merkel so, wie sich klar zu positionieren. Da wird lieber ausgeglichen, wegmoderiert und angepasst, bis auch der letzte Kritiker zufriedengestellt ist. Das mag politisch erfolgreich sein, immerhin wurde sie dreimal wiedergewählt. Aber für den Wettstreit der politischen Ideen bedeutet es das Ende. Philip Grassmann

Ein anderer Blick auf Russland

Es begann mit einem Nachdruck. Auf einer Seite war im Freitag vom 16. Februar 2007 zu lesen, was der russische Präsident Tage zuvor auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hatte. Heute wäre dafür das Label „Wutrede“ fällig. Wladimir Putin rügte den herablassenden Umgang des Westens mit seinem Land, dem bedeutet wurde, ein paar Lektionen mehr an Unterwerfung zu pauken, um salonfähig zu sein. Wir besorgten uns den Text (nicht von der russischen Botschaft!) und veröffentlichten ihn komplett als zunächst einziges Blatt deutschlandweit. Wer den Freitag damals las, ahnte, wie sich die Fronten verhärten konnten. Spätestens 2014 ließ der uns heftig beschäftigende Ukraine-Konflikt erkennen, welches Scherbengericht die Folge war. Lutz Herden

Scheinheilige Europa-Politik

Alexis Tsipras am Boden, über seinem Gesicht ein Herrenschuh, aus dem eine EU-Socke ragt: „So hilft Europa“. Kein Titel bringt unsere Position zur Politik Berlins und Brüssels mit Blick auf Südeuropa besser auf den Punkt. Zwar musste selbst in Sitzungen dieser Redaktion immer mal wieder Kollegen erklärt werden, warum deutsche Leistungsbilanzüberschüsse und nicht „griechische Faulheit“ für die von 2010 an währende Eurokrise verantwortlich zeichnen. Am Ende und „im Blatt“ aber war immer klar: Anders als viele Medien machten wir uns nicht zum Sprachrohr hiesiger Regierungen, die den europäischen Gedanken zwar beschwören, ihn dann aber mit den Füßen treten, indem sie andere EU-Staaten mit Spardiktaten strafen. Sebastian Puschner

Wozu braucht man eine Gender-Seite?

Ist eine Gender-Seite 2020 noch zeitgemäß? Die Redaktion würde wohl mit „Jein“ antworten. „Familie und das ganze Gedöns“, das fiel Gerhard Schröder vor 22 Jahren zum Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein. Er benötigte 15 Jahre, bis er seine Äußerung bereute. Bei unserer Gender-Seite gibt es nichts zu bereuen. Aber: Braucht es eine Seite oder eine ganze Zeitung? Sollte es im 21. Jahrhundert nicht selbstverständlich sein, den Gender-Aspekt bei jedem Thema in jedem Artikel mitzudenken? Wir arbeiten daran. Und bis dahin und darüber hinaus ist die Gender-Seite ein Statement. Eines, das in Zeiten, in denen weltweit die Rechte von Frauen und Minderheiten immer mehr unter Beschuss geraten, sehr zeitgemäß ist. Martina Mescher

#unten: Es gibt noch sehr viel zu tun

Unser Kollege Christian Baron schrieb den Bestseller Ein Mann seiner Klasse. Christian Baron und ich kommen aus einem ähnlichen Stall, er Prekariat, ich Kleinbürgertum. In einer Redaktionskonferenz sagte Christian einmal, es brauche eigentlich ein #Metoo für das Prekariat. Wie sehr beruflicher Erfolg von der Herkunft abhänge, das sei in Deutschland noch immer unterbelichtet. Ich wusste sofort, wovon er redet. Und so entstand der Hashtag #unten. Wir stritten für unser Herzensthema. Von der breiten Aufmerksamkeit wurden wir beide dann kalt erwischt. Selten hatte ein Thema so viel Resonanz nicht nur in den Medien, sondern sogar bei Menschen, die den Freitag vielleicht noch nie gelesen hatten. Gut so. Wir bleiben dran. Katharina Schmitz

Baut das Stadtschloss wieder ab!

Wenn am 17. Dezember das Humboldt-Forum aka Stadtschloss formerly known as Ort des Palasts der Republik eröffnet, kann mit dessen Rückbau endlich begonnen werden. So zumindest der kühne Plan, den die Künstlerin Rigoletti anlässlich seiner Grundsteinlegung 2013 im Freitag vorgestellt hat. Warum mit dem Kreuz auf der Kuppel ein guter Anfang gemacht wäre, legte Lutz Herden in diesem Sommer deutlich ernsthafter dar. Er schrieb anlässlich der Errichtung von einer „triumphalen Geste der historischen Revanche“. Wie mit DDR-Kunst nach der Wende verfahren wurde, beschäftigt das Blatt seit 1990. Dass Werke von DDR-Künstlern inzwischen vermehrt und ideologiefreier ausgestellt werden, haben wir mit zahlreichen Artikeln begleitet. Christine Käppeler

Das Klima verändert nicht nur das Wetter

Wenn Michael Jäger sich einem Thema widmet, dann richtig. Erst wälzt er seine Gedanken, indem er in Zehntausenden Zeichen das Internet vollschreibt. Und dann kommt an seinen Erkenntnissen auch in der Redaktion niemand mehr vorbei. 2019, als der Hitzesommer anhielt, die Prognosen zum Klimawandel deutlich machten, dass eine radikale CO₂-Einsparung notwendig ist, und die Fridays for Future ihren Streik begannen, hatte der Kollege so eine Erkenntnis: Die Klimafrage ist nicht eine von vielen, sondern die Brille, durch die Politik betrachtet werden muss. Wenn das stimmt, sagte er in einer Sitzung, dann ist nur noch eine Frage wichtig: Wie funktioniert eine sozialökologische Politik? Was sind also die Aufgaben einer ökologischen Linken? Elsa Koester

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