Das Joschka-Feeling oder der lange Atem

Sportplatz Der Berliner Wahlmarathon hat es gezeigt: Es gewinnen diejenigen mit der größten Ausdauer, mit dem besten Stehvermögen, mit dem längstem Atem. ...

Der Berliner Wahlmarathon hat es gezeigt: Es gewinnen diejenigen mit der größten Ausdauer, mit dem besten Stehvermögen, mit dem längstem Atem. Betrachtet man es genauer, ist der knappe Wahlsieg vor allem Joschka Fischers Sporterfahrungen zu verdanken.

Es ist wohl ein gutes Jahr her, dass ich seine Biografie Mein langer Lauf zu mir selbst in die Finger bekam. Ich unternahm gerade erste zaghafte Versuche, mir das Laufen näher zu bringen. Langlauf war für mich die Leichtathletik-Gruseldisziplin schlechthin. Beim bronzenen Schülersportabzeichen, später dann auch als Jugendlicher, machten mir alle Disziplinen jenseits der 100 Meter arg zu schaffen. Lange Strecken und langer Atem, das war wirklich nicht meins.

Dann trat Joschka in mein Leben, genauer gesagt, sein Buch. Plastisch und drastisch schildert er da das große Fressen und seine fetten Jahre. Auf 112 Kilo brachte er es, bei 1,81 Meter Körpergröße. Aber nach zwölf Monaten hatte er über 35 Kilo abgenommen. Und sah zunächst aus, man erinnert sich, wie eine abgemagerte Feldmaus, die Beschützerinstinkte weckte.

Ich selbst brachte noch vor einem Jahr fast 100 Kilo auf die Waage, was sich zwar auf meinen 1,87 Metern noch ganz gut verteilte, für einen Läufer aber zuviel Ballast bedeutet. Meine ersten Laufversuche gestalteten sich entsprechend. Mit dem festen Vorsatz, ein halbes Stündchen durchzuhalten, stand ich nach 15 Minuten wieder japsend vor der Haustür. Eine Erfahrung, die auch Fischer machen musste, als er sich im Herbst 1996 in seinen XL-Klamotten den kleinen Berg am "Langen Eugen" in Bonn hochschleppte - und prompt scheiterte. Nur ganz allmählich, das ist nun mal die Regel, gewöhnt sich der Körper an die Belastung. Und verbrennt proportional mit den Anforderungen immer besser. So schaffte ich nach einigen Wochen die geplante halbe Stunde, irgendwann waren es 45 Minuten und nach einem guten Vierteljahr war auch eine Stunde am Stück kein Problem mehr.

Fischer rannte und rannte, bis er eines Tages, die Bonner Rheinbrücken hinter sich lassend, in der Nähe des Örtchens Mehlem plötzlich vor einem Schild stand: "Willkommen in Rheinland-Pfalz". Bei mir beschränkte sich das Training auf meinen Stadtpark. Aber aus der anfänglichen 2,3 Kilometer-Runde wurden nach und nach zwei, drei, fünf, zehn. Und meine Rundenzeiten verkürzten sich nach und nach.

Vor drei Monaten kaufte ich mir ein Herzfrequenz-Messgerät - ein Joschka-Tipp. Etwas, das ich lange belächelt hatte. Aber seitdem sind nicht sture Kilometer oder Rundenzeiten maßgeblich, sondern einfache Körpersignale. Man hat auch als Sportler gute und schlechte Tage. Eine weitere sinnvolle Sache ist das Lauftagebuch. Auch wenn selten mehr notiert wird als Distanz, Dauer und Durchschnittsherzfrequenz. Ein ungewöhnlicher Eintrag steht bei Fischer am 12.4.1998 in Klammern: ("Herzlichen Glückwunsch zum 50. Geburtstag!"). In meinem Tagebuch findet sich nur eine ungewöhnliche Notiz, als ich vor einem knappen Monat anhalten musste, um einen Golfspieler auf die Gefährlichkeit seiner harten Abschläge mitten in einem öffentlichen Berliner Park hinzuweisen.

Ansonsten haben Langläufer keine natürlichen Feinde - außer sich selbst. Fischer hat in seinem Buch vier Tugenden definiert, an die er sich aus Gesundheitsgründen hält: Entschlossenheit, Durchhaltevermögen, Realismus und Geduld. Zugleich lautet einer seiner Grundsätze: "Gib niemals auf". Das alles will ich beherzigen, wenn ich an diesem Wochenende mit weichen Knien, 80 Kilo Lebendgewicht und mit der Startnummer 9261 irgendwo im Pulk von 40.000 Läufern stehe. Einige von ihnen werden Fischers Buch gelesen haben. Jede und jeder hat seine Zielvorgabe. Meine ist es, diesen meinen ersten Marathon durchzustehen und nach Möglichkeit unter vier Stunden zu bleiben. Joschka Fischer selbst wird nicht mitlaufen, sondern steckt bereits in Koalitionsverhandlungen. Bei seinem ersten Marathon in Hamburg 1998 lief er drei Stunden und 41 Minuten. Das ist für mich im ersten Anlauf kaum zu knacken. Wenn überhaupt, dann nur mit besonders langem Atem.

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