Als der tschechische Senat im April 2008 ein Antidiskriminierungsgesetz beschloss, um den EU-Mitgliedstaat in Einklang mit EU-Recht zu bringen, geschah das nicht ohne ein letztes Aufbäumen. So verabschiedete das Oberhaus kurzerhand eine Erklärung, der zufolge es nur handle, um andernfalls drohenden EU-Sanktionen zu entgehen. „Künstlich“ sei das Gesetz und stehe „im Widerspruch zu der natürlichen Entwicklung der Gesellschaft“.
Der Argumentation des Senats schloss sich auch das damalige Staatsoberhaupt von der liberal-konservativen ODS-Partei an. Kurz darauf legte er sein Veto ein, woraufhin das Gesetz noch einmal durchs Parlament musste, bevor es endgültig in Kraft treten konnte. Václav Klaus, inzwischen Präsident a. D., unterstü
terstützte später den Österreicher Norbert Hofer im Wahlkampf und gratulierte jüngst der AfD zu ihrem Abschneiden bei der Bundestagswahl.Lavierende RichterAuch wenn der Populist Klaus politisch einen Extremfall darstellt und das Gesetz seit fast neun Jahren in Kraft ist, mit seiner Verabschiedung setzte Tschechien als letzter Mitgliedstaat eine Antidiskriminierungsrichtlinie der EU um, der es eigentlich schon vor seinem Beitritt 2004 hätte nachkommen müssen. Und sosehr man sich dort zunächst gegen das Gesetz sträubte, so schlecht ist es seither um seine Umsetzung bestellt. „Man hadert damit noch immer wie mit etwas Fremdartigem“, konstatierte die Juristin Barbara Havelková jüngst in der Tageszeitung Lidové noviny. Nach wie vor herrsche die Vorstellung, „dass es in Tschechien überhaupt gar keine Diskriminierung gibt“. Eine Problematik, die die Amerikanerin Deborah Rhode bereits 1990 als das „No-Problem Problem“ beschrieben hat.Die Tschechin Havelková lehrt EU-Recht und feministische Rechtswissenschaft in Oxford und forscht zur Gleichstellung in den ehemals sozialistischen Staaten Zentral- und Osteuropas. Den Widerstand gegen das Antidiskriminierungsgesetz sieht sie auch als postsozialistisches Erbe der jungen Republik. Über ein Jahrzehnt hat sie sich mit unzähligen Fällen beschäftigt, die seither vor tschechischen Gerichten gelandet sind. Etwa 150 schafften es bis vor das Verfassungsgericht, wobei es nur bei einer Handvoll tatsächlich um Diskriminierung auf Grundlage von Geschlecht oder sexueller Orientierung ging. Während willkürliche Ungleichbehandlung in Tschechien sehr wohl als ungerecht wahrgenommen werde, gelte dasselbe nicht für sozial benachteiligte Gruppen. „Frauen etwa werden als schlicht zu unterschiedlich wahrgenommen, als dass sie das Kriterium der Vergleichbarkeit erfüllen. Genau das ist aber ein Hauptkriterium für die Gleichstellung.“ Beispiele wie die eines Steuerzahlers, der klagt, weil er sich in die falsche Steuerklasse eingeordnet und also diskriminiert fühlt, verwässerten häufig die Kriterien für wirkliche Diskriminierung, sagt Havelková.Umgekehrt würden viele Fälle, die unter EU-Recht als Diskriminierung gelten, in Tschechien nicht verfolgt. Das liege auch daran, dass die rechtliche Schwelle viel zu hoch sei. Im Gegensatz zu anderen EU-Staaten reiche unbewusste Diskriminierung nicht aus. „Die Richter suchen nach Vorsatz oder Intention, die Beweislast liegt beim Opfer.“ Den Mangel einer expliziten Absicht werteten Gerichte im Zweifel als entlastend. Im Gegensatz zu Deutschland etwa, wo Diskriminierung als strukturelles Problem anerkannt werde, sei in Tschechien immer noch von „den paar schwarzen Schafen“ die Rede.Zudem würden sich die Gerichte in Diskriminierungsrecht nicht allzu gut auskennen. In vielen Fällen versuchten sie da, wo tatsächliche Diskriminierung vorliege, einer Rechtsprechung auf Grundlage des schlecht gelittenen Paragrafen systematisch auszuweichen. Stattdessen würden nebensächliche Aspekte wie Form- oder Verfahrensfehler herangezogen, nach denen dann entschieden und der Fall „entschärft“ werde. Oft werden Klägerinnen etwa auf ein anderes Verfahren hingewiesen. Gerichte würden rechtswidrige Kündigungen viel lieber nach ordentlichem Arbeitsrecht entscheiden als auf eine diskriminierende Ursache hin zu untersuchen.Sie erinnere sich an den Fall einer Frau, die einen potentiellen Arbeitgeber verklagte. Als Siegerin aus der ersten Runde eines Auswahlverfahrens hervorgegangen, wurde ihr am Ende keine Position angeboten. In einer zweiten Runde, zu der die Frau gar nicht mehr eingeladen worden war, wurde ein deutlich jüngerer männlicher Bewerber als Sieger ermittelt – er bekam ein Angebot. Das Gericht entschied, man könne zwei voneinander unabhängige Bewerbungsrunden formal unmöglich miteinander vergleichen. Wieder fand sich ein Schlupfloch, um nicht über den eigentlichen Sachverhalt entscheiden zu müssen. Bis auf zwei Ausnahmen, so Havelková, mündeten alle 17 Fälle, die vor dem Obersten Gerichtshof gelandet sind, in einer Niederlage für die Klägerinnen – „und dabei ging es jeweils um lehrbuchhafte Beispiele von Diskriminierung von Frauen.“ Für ihr kürzlich erschienenes Buch hat sie sich mit jedem einzelnen beschäftigt.Die Idee der freien WahlTschechien dient ihr nur als Beispiel. Auch in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks gebe es massive Probleme, wobei etwa in Polen und der Slowakei im Vergleich zum atheistisch geprägten Tschechien noch der Einfluss der katholischen Kirche erschwerend hinzukäme. Als eine der wichtigsten Ursachen für die Missstände identifiziert sie das gesellschaftliche Erbe des staatlichen Sozialismus. Das überrascht. Schaut man hierzulande in die Statistik, liegen die neuen Bundesländer, was gleiche Bezahlung und Erwerbsquote angeht, weit vorn. Bessere Kinderbetreuung oder ein emanzipierteres Frauenbild lassen die DDR im Vergleich zur BRD im Rückblick fortschrittlicher erscheinen – ein Stück weit Verklärung, wie ein Bericht des Familienministeriums von 2015 klarstellt: „Die Stilisierung der Gleichstellung von Frauen in der DDR verzerrt die Wirklichkeit damals.“ Das deckt sich mit Havelkovás Befunden. Im Grunde versperrten zwei Mythen den vorurteilsfreien Blick auf die Genealogie der heutigen Gender-Normen in Tschechien: Einerseits die Überzeugung, der Sozialismus wäre als Staatsform durchwegs feministisch gewesen, andererseits der Glaube, es habe doch vollständige Gleichstellung gegeben und die habe nicht funktioniert. Das traditionelle Verständnis von Geschlechterrollen heute führt sie in den ehemaligen Ostblockstaaten vor allem auf eine fehlende feministische Bewegung zurück, die in vielen westlichen Staaten in den 60ern und 70ern stattgefunden habe.Dabei dürfe man sich nicht täuschen lassen. Westdeutschland, so Havelková, sei wie andere Länder Westeuropas ein von Grund auf gender-konservatives Land. „Doch geht es seit den 70ern langsam bergauf.“ Im Osten dagegen sei man in den 50ern schon viel weiter gewesen, seither aber gehe es stetig bergab. „Alena Wagnerová, eine tschechische Autorin, die Anfang der 60er Jahre nach Westdeutschland emigriert ist, schreibt, dass sie damals dachte, sie reise was Gleichstellung betrifft zurück in die Zeit ihrer Mutter. Kurioserweise hat sich bei ihr dann exakt dasselbe Gefühl noch einmal eingestellt, als sie Anfang der 90er Jahre wieder zurück nach Tschechien gegangen ist.“Für Haveloková setzt noch ein zweiter Mechanismus ein: Nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs habe sich eine Art post-sozialistischer Neoliberalismus eingestellt – als Gegenbewegung zum vormals staatlich verordneten Sozialismus. „Die Ideen der freien Wahl ist bis heute zentral. Wer sich entscheidet, Mutter zu werden, so das gängige Argument, braucht sich nicht zu beschweren, wenn er den Job zu verliert.“Auch deshalb ist für die Juristin, die den Ministerpräsidenten Bohuslav Sobotka in Gender-Fragen berät, der gesellschaftliche Unterbau entscheidend. „Die Gerichte sind auf der einen Seite, aber die Legislative und die öffentliche Meinung auf der anderen.“ In der sozialdemokratischen ČSSD des Ministerpräsidenten gebe es mittlerweile progressivere Strömungen. Die Arbeitsministerin habe gerade die Möglichkeit eines einwöchigen Vaterschaftsurlaubs angekündigt. Unter Intellektuellen finde ebenfalls ein Umdenken statt. „Die Studierenden in meinen Kursen in Prag diskutieren heute über andere Dinge als noch zu meiner Zeit“, fügt Havelková hinzu.Placeholder infobox-1
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