Die Psychologin Christine Carl hat in einer Studie über gewollte Kinderlosigkeit aus dem Jahr 2002 Fragebögen von 85 kinderlosen Personen (64 Frauen und 21 Männer) und 215 Eltern (151 Frauen, 64 Männer) ausgewertet und mit 15 Frauen und 5 Männern ausführliche Interviews geführt, in denen es um den "Verlauf der Entscheidung zur Kinderlosigkeit" und den "Umgang mit Kinderlosigkeit" ging. Carl unterteilt die Gruppe der "gewollt Kinderlosen" in "Frühentscheider/innen", "Aufschieber/innen" und "Spätentscheider/innen". Die Studie stellt keinen Anspruch auf Repräsentativität.
FREITAG: Frau Carl, Sie sind Mitte Dreißig. Haben Sie Kinder?
CHRISTINE CARL: Ich habe keine Kinder, möchte aber welche haben. Allerdings halte ich das für eine der typischen Verwechslungen: zu glauben, ich beschäftige mich mit diesem Thema, weil es mich selbst betrifft. Über Depressionen kann man ja auch schreiben, ohne selbst betroffen zu sein - warum nicht über gewollte Kinderlosigkeit?
Gesellschaftliche Klischees besagen: Eltern, Mütter insbesondere, haben zwar weniger Geld und Freizeit, sind aber langfristig zufrieden mit ihrer Entscheidung. Kinderlose dagegen sind reich und unabhängig, fühlen sich aber später einsam und bereuen ihren Entschluss. Hat Ihre Studie das bestätigt?
Wir haben kinderlose Männer und Frauen sowie Eltern im Alter von 43 bis 65 Jahren befragt und im Hinblick auf das psychische Wohlbefinden keinerlei Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gefunden. Auch in der gesundheitlichen Verfassung und in der Zufriedenheit mit der Partnerschaft gab es keine signifikanten Unterschiede. Allerdings waren die Kinderlosen etwas unzufriedener mit der Häufigkeit, Erreichbarkeit und Verfügbarkeit ihrer sozialen Kontakte im Freundeskreis und - erstaunlicherweise - mit ihrer Sexualität.
Und der materielle Wohlstand?
Was die Einkommenssituation von Kinderlosen im Vergleich zu Eltern betrifft, finden sich in der Forschungsliteratur widersprüchliche Ergebnisse. Dies ist möglicherweise ein Hinweis auf zwei verschiedene soziale Milieus. Zum einen gibt es die hoch qualifizierten kinderlosen Frauen und Männer, die voll erwerbstätig sind und entsprechend viel verdienen. Es gibt aber auch Kinderlose, die trotz Erwerbstätigkeit nur ein niedriges Einkommen erzielen.
Zweites Klischee: Kinderlose wollen um jeden Preis unabhängig bleiben und Erfolg im Beruf haben, deswegen bekommen sie keine Kinder.
Es ist richtig, dass gewollt Kinderlose der eigenen Unabhängigkeit in Befragungen einen höheren Wert beimessen als Eltern. Das sagt aber noch nichts über ihre Motive aus, weil die angestrebte Unabhängigkeit auch eine Folge ihrer Entscheidung sein kann und nicht die Ursache. In die Entscheidung gegen Kinder fließen verschiedene Faktoren ein. Hier ist besonders die Herkunftsfamilie zu nennen, die nach Aussage der Befragten eine entscheidende Rolle spielt. Botschaften wie "Führe ein aufregenderes Leben als ich" oder "Binde dich nicht so an einen Mann, wie ich es getan habe" werden zum Beispiel gerne von Müttern an ihre Töchter weitergegeben und tragen dazu bei, dass eine Entscheidung gegen Kinder getroffen wird. Kinderlose Männer berichten dagegen eher, dass sie befürchten, keine guten Väter zu sein. Auch da spielen die Erfahrungen aus der Herkunftsfamilie eine große Rolle.
Heißt das, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie einer ausreichenden Kinderbetreuung, kommt gar keine so große Bedeutung zu?
Individuelle Gründe und gesellschaftliche Rahmenbedingungen fließen bei der Entscheidung zusammen. Die Nichtvereinbarkeit von Kind und Beruf ist natürlich eine Angst, die Einfluss auf die Entscheidung von Frauen nimmt. Darüber hinaus ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Anforderungen an die Elternrolle im 21. Jahrhundert enorm gestiegen sind und viele Menschen Angst haben, diesen Anforderungen nicht gerecht zu werden.
In Ihrer Studie haben Sie verschiedene Typen gewollt Kinderloser gefunden. Unter anderem die Aufschieber/innen - eine Gruppe gewollt Kinderloser, die sich sehr wohl hätten vorstellen können, Kinder zu bekommen, die irgendwann feststellen, dass es sich "nicht ergeben" hat. Kann man denn bei dieser Gruppe noch von "gewollter Kinderlosigkeit" sprechen? Oder handelt es sich nicht eher, wie die Publizistin Susanne Mayer es formuliert, um eine "sozial verursachte Sterilität"?
Ich denke - und meine Studie hat das auch belegt - dass die polarisierte Einteilung in ungewollte und gewollte Kinderlosigkeit in vielen Fällen der Vielfalt individueller Lebensschicksale nicht gerecht wird. Ein lebenslanger starker unerfüllter Kinderwunsch auf der einen Seite und eine lebenslange klare Entscheidung gegen Kinder auf der anderen Seite beschreiben nur die beiden extremen Pole der Kinderlosigkeit. Dazwischen gibt es ein Kontinuum von Menschen, deren Kinderwunsch im Laufe des Lebens aus unterschiedlichen Gründen mehr oder weniger starken Schwankungen ausgesetzt ist. Das heißt, die Frage, Kinder oder keine, stellt sich immer wieder neu und muss immer wieder neu entschieden werden. Das ist auch bei den Aufschieber/innen so. Von "gewollter Kinderlosigkeit" spreche ich in diesem Zusammenhang deshalb, weil es mir wichtig erscheint, die Freiwilligkeit der Entscheidung und damit die Willens- und Handlungsfreiheit der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen.
Hat Kinderlosigkeit für Männer und Frauen unterschiedliche Bedeutung? Männer können schließlich bis ins hohe Alter Kinder zeugen.
Frauen und Männer haben unterschiedliche gesellschaftliche Rollen, die mit verschiedenen Anforderungen einhergehen. Daher werden auch andere Gründe für die Entscheidung gegen Kinder genannt: Frauen geben häufiger Selbstverwirklichung an, Männer nennen berufliche Gründe. Frauen berichten auch, häufiger und stärker einem sozialen Druck ausgesetzt zu sein als Männer. Und sie machen sich selbst mehr Druck, weil sie schlicht weniger Zeit haben, sich mit der Kinderfrage auseinander zu setzen. Für die Generation derjenigen, die wir befragt haben, waren es außerdem meist die Frauen, die die Entscheidung gegen Kinder getroffen haben. Heute scheint mir das eher umgekehrt zu sein: Männer verweigern sich immer mehr und Frauen stehen vor dem Problem, Partner zu haben, die keine Kinder wollen.
Wir erleben ja zurzeit eine ungeheuere medial vermittelte Konjunktur des Kinderkriegens und -habens. Setzt das Menschen unter Druck, die keine Kinder wollen?
Das war in den Interviews vor allem bei den Frauen immer wieder Thema - die typische Partysituation, dass jemand relativ Wildfremdes sie fragt: Warum haben Sie eigentlich keine Kinder? Relativ häufig sind auch entsprechende Bemerkungen innerhalb des familiären Rahmens; die Betroffenen haben dann das Gefühl, sich für ihr Lebensmodell rechtfertigen zu müssen. Wie gering die gesellschaftliche Akzeptanz ist, zeigen aber auch die öffentlichen Bewertungen: Kinderlose kommen - etwa in der aktuelle Rentendebatte - nur als "double-income-no-kids" und Sozialschmarotzer vor. Die gesellschaftliche Toleranz lässt an diesem Punkt noch sehr zu wünschen übrig.
Wenn, wie Sie schreiben, die Frage des "Kinder-kriegen-Möchtens" eine ist, die biographisch von den meisten Kinderlosen über Jahre hinweg immer wieder neu beantwortet wird, gilt das für Eltern genauso? Und könnte das der Grund sein, warum Kinderlose und Eltern sich oft so unversöhnlich gegenüber stehen: weil die einen etwas realisiert haben, was die anderen sich auch einmal gewünscht haben?
Ich denke ganz sicher, dass es etwas mit den Ambivalenzen zu tun hat, die diese Entscheidung begleiten. Da ist Neid im Spiel, vielleicht schielen Eltern auf die Kinderlosen und stellen fest: Ihr könnt in Urlaub fahren, wir nicht, ihr habt Hobbys, für die uns die Zeit fehlt. Vielleicht spielt von Seiten der Eltern auch das Gefühl eine Rolle, die haben sich getraut, eine Entscheidung für ihre Bedürfnisse und ihre Lebensvorstellungen zu treffen. Andersherum formulieren ja viele Kinderlose, dass sie durch ihre Entscheidung gegen Kinder wahrscheinlich auch etwas Wichtiges im Leben verpasst haben, auch wenn sie anderes gewonnen haben. Jede Entscheidung hat ihren Preis.
Das Gespräch führte Karin Nungeßer
Christine Carl, Gewollt kinderlose Frauen und Männer, Psychologische Einflussfaktoren und Verlaufstypologien des generativen Verhaltens, Frankfurt a. M. 2002; Leben ohne Kinder, Reinbek bei Hamburg, 2002.
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