Das Kino als Therapie

Rumänien Călin Peter Netzer beobachtet in seinem Film „Ana, mon Amour“ die Liebe in Zeiten der Korruption – mitunter zu aufmerksam
Ausgabe 34/2017

Der Film Ana, mon Amour beginnt mit einer Panikattacke. Gleich beim ersten Date überfallen Ana (Diana Cavallioti) diffuse Bauchschmerzen, Atemnot. Sie hat dann aber trotzdem Sex mit Toma (Mircea Postelnicu). So sind die beiden Pole gesetzt, von denen die Figuren in diesem Film angezogen und abgestoßen werden: Eros und Thanatos. Călin Peter Netzer legt in Ana, mon Amour ein ganzes Land zur Psychoanalyse auf die Couch.

Der Regisseur hat bei der Berlinale 2013 den Goldenen Bären gewonnen für Mutter und Sohn – ein Drama, in dem eine Mutter um jeden Preis die Verbrechen ihres Sohnes vertuschen will. Nun beschäftigt er sich wieder mit den Befindlichkeiten im postsozialistischen Rumänien, einem von Jahrzehnten der Diktatur und Misswirtschaft, von orthodox-patriarchalen Machtstrukturen geprägten Land. Nur Tage nachdem Ana, mon Amour im Februar 2017 Premiere wiederum auf der Berlinale feierte, protestierten in Bukarest 500.000 Menschen gegen ein Dekret, das die Verfolgung von Korruption erschweren sollte.

Unter den Demonstranten waren sicher auch Leute wie Ana und Toma. Die Julia und der Romeo in einer Liebesgeschichte, in der nicht nur Familien einander spinnefeind sind, sondern von Generation zu Generation weitergegebene Verhaltens- und Denkweisen eine gesunde Beziehung unmöglich machen. Netzer springt abrupt und unvermittelt zwischen den Zeitebenen hin und her – Tomas sich lichtendes Haar und Anas Frisuren markieren diese Wechsel so deutlich, als vertraue der Regisseur seinen erzählerischen Fähigkeiten nicht. Dabei erhielt die Cutterin Dana Bunescu für den Schnitt einen Silbernen Bären.

„Wir sind ziemlich aus der Zeit“, stellt Tomas Psychoanalytiker gegen Ende des Films fest. Da sind zwei Stunden vergangen, in denen wir Zeuge dieser wechselhaften, mittlerweile gescheiterten Beziehung wurden. Ana, Literaturstudentin aus der wirtschaftlich schwachen Moldau-Region, ist traumatisiert vom missbräuchlichen Verhältnis zu ihrem Vater, abhängig von fatalen Medikamentencocktails. Toma kommt aus einer gutbürgerlichen Familie aus dem prosperierenden Pitești, der Stadt, die in den 1950er Jahren zweifelhafte Berühmtheit erlangte, weil die Securitate hier durch Folter und Erniedrigung Gefangene zu Kommunisten erziehen wollte.

Toma kümmert sich so aufopferungsvoll um Ana, dass die feine Linie zwischen gegenseitiger Liebe und Abhängigkeit verschwimmt. Liegt er in ihrem Schoß, geht sein Blick genauso ins Leere wie auf der Couch des Psychoanalytikers. Die Flucht ins private Glück scheitert zusehends, bei vollem Bewusstsein droht er die Fehler der eigenen Eltern zu wiederholen.

Immerfort geht es in Ana, mon Amour um die Neigung, Unbequemes zu verdrängen, und um Strategien, Unbewusstes hervorzuholen. Vielleicht erklärt das auch, wieso die Figuren ständig aufs Klo müssen – sie fragen nach der nächsten Toilette, tun ihr Bedürfnis kund oder können es nicht mehr halten. Als sei der Lokus der einzige Ort, an dem es erlaubt ist, alles rauszulassen. Aber einmal mehr verlässt sich der Regisseur nicht darauf, dass sein Publikum den Wink versteht und baut noch eine Szene an der Uni ein, lässt einen Professor über Automatisches Schreiben dozieren.

Die unruhige Handkamera bleibt die ganze Zeit über bei dem Paar, als nähme sie die Perspektive des Therapeuten ein, ermögliche uns, mit seinen Augen auf das von Toma ins Bewusstsein beförderte Geschehen zu blicken. Die Beobachtungshaltung ist typisch für die Filme der rumänischen Neuen Welle: Cristi Puiu, Cristian Mungiu, Radu Jude, Corneliu Porumboiu drehen Filme, die sich von politischem Aktionismus fernhalten und die rumänische Gesellschaft im Alltag observieren und erforschen. In Ana, mon Amour ist das Kino eine Therapie, die bis zuletzt nicht abgeschlossen sein wird. „Wir sehen uns nächsten Donnerstag“, sagt der Therapeut am Ende des Films.

Info

Ana, mon Amour Călin Peter Netzer ROM/D/FRA 2017, 125 Minuten

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