Das Lauschen wob sich tiefer ein

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Gibt es in der modernen Poesie eine Dichtung des reinen Schauens, die sich in fotografischer Genauigkeit den Dingen widmet? Gibt es im Gedicht den absichtslosen Blick, der ganz auf der Oberfläche und der Materialität der Phänomene ruht? Gibt es Gedichte, in denen das Ich fast gar nicht mehr vorhanden ist und der Wahrnehmende nur noch Sensorium?

Man hat mit solchen Konstrukten einer reinen Wahrnehmungspoesie spekuliert, als 2006 der erste Gedichtband des Dichters Nico Bleutge erschien, der Band klare konturen. Viele waren begeistert von dessen diskreter Poetik. Anlässlich dieses Buches hat man Nico Bleutge einen Augenmenschen genannt, der für die zeitgenössische Lyrik das Abenteuer des Sehens neu erfunden hat. "Hier geht es um Sprach- und Wahrnehmungszustände vor der Natur", schrieb etwa Bleutges Kollege Lutz Seiler. "Ein ›Ich‹, so Bleutge selbst, "ein ›Ich‹ im Sinne einer festen Instanz gibt es gar nicht mehr, kein Subjekt ist hier erhaschbar, sondern nur ein Kollektor von sinnlichen Eindrücken." Es bleibt in diesen Exerzitien der Wahrnehmung vieles in der Schwebe. Es sind fast immer "wandernde teilchen", die der Dichter anvisiert, die jedoch nicht als tote Objekte fixiert werden, sondern als Gegenstände, deren Fremdheit nie eingeholt werden kann in einen klar zu definierenden Sinn.

Die Verwunderung ist groß, wenn man nun die neuen Gedichte Nico Bleutges zur Kenntnis nimmt - neue Gedichte, die sich von dem ihm zugeschriebenen Oberflächenpositivismus ganz bewusst distanzieren und stattdessen Anklänge an ganz alte magische Techniken ins Spiel bringen. Ein zentraler Text des zweiten Buches von Nico Bleutge, des Bandes fallstreifen, der im August 2008 erscheinen wird, ist das Gedicht aufgeblitzt. Es evoziert einen eminent romantischen Vorgang der Verwandlung. Die Jahreszeiten, Wetterzustände, Lichtverhältnisse und taktile wie akustische Erfahrungen, von denen der Dichter spricht, werden hier romantisch aufgeladen. Da ist zunächst ein Wort mit besonderer Suggestionskraft, das Wort "Schnee". Und für einen Moment scheint sich eine alte Utopie zu erfüllen - das Zusammenfallen von Name und Ding. Es ist die Erfahrung realer Präsenz: "sie (zu ergänzen ist: "die Welt") war mir ungeheuer / deutlich, kam mir sprachlos nah." Und obwohl das Gedicht deutlich auf einen technischen Apparat referiert, auf die mediale Präformierung der Wahrnehmungen auf einem "Bildschirm", kommt es zu einer romantischen Verschmelzung. Es kommt, wie in Gedichten Brentanos und Eichendorffs, zu einem zeichenhaften Tönen mitten in einer technisch-profanen Umgebung. Das romantische "Rauschen" in einer medial domestizierten Natur scheint wieder da zu sein - auch wenn die letzten Zeilen noch einmal in nüchterner Desillusionierung ironisch gegensteuern: es war ein wehen / nahe, ungesprochen, das lauschen / wob sich tiefer ein. fast/ schien es schnee zu sein, der blieb / ein ziehen in der nase, staubgeruch. Dies soll reine Wahrnehmungspoesie sein? Nein - das ist romantischer Klangzauber.

Nico Bleutge, geboren 1972, lebt in Tübingen. 2006 erschien bei C.H. Beck sein Gedichtband klare konturen. Das vorliegende Gedicht ist dem Band fallstreifen entnommen, der im August im C.H. Beck Verlag erscheinen wird.


Nico Bleutge

aufgeblitzt

es war von schnee die rede, seiner härte
schnee, der sich in spalten frißt und risse
im gelände hinterläßt, sie sagte schnee
die stimme, aufgeblitzt. das bild
sackte in sich zusammen, flackerte
noch einmal auf. die dinge, töne
schienen ähnlich, und die welt fast
angestochen, sie war mir ungeheuer
deutlich, kam mir sprachlos nah. bis
auf die knochen reichte dieser stich
der aus dem hinterkopf stammte, seinem
schwerefeld: das stumme sitzen
auf der couch, die lehne und
die rillen in der haut. oder die nachmittage, sonntags, licht
fällt vom fenster richtung farn
der bildschirm knistert, wenn die hand,
noch warm, darüber fährt. es war ein wehen
nahe, ungesprochen, das lauschen
wob sich tiefer ein. fast
schien es schnee zu sein, der blieb
ein ziehen in der nase, staubgeruch

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