Das Leben der Dinge

Konsum Im Internet floriert der private Flohmarkthandel. Aber das ist nur eine weitere Spielart des Kapitalismus
Ausgabe 38/2016

Ein Flohmarktbesuch kann eine ziemlich intime Angelegenheit sein. Dies allerdings weniger bei der Begegnung von Käufern und Verkäufern; intim wird es vielmehr beim Begutachten der angebotenen Waren. Oft und überdeutlich tragen diese die Spuren ihrer Vergangenheit an sich. Kratzer, Sprünge, Dellen und Verfärbungen bezeugen, dass die Dinge ein Vorleben besitzen und Teil eines anderen menschlichen Alltags waren. Wer sie in den Händen hält, geht also eine körperliche Verbindung mit der Biografie ihrer (Vor-)Besitzer ein.

Vielen erscheinen die Dinge aus zweiter Hand gerade aus diesem Grund als besonders werthaltig. Ihr Gebrauchtsein wird nicht als Makel, sondern als zusätzlicher Gewinn begriffen. Die Dinge haben ihre industrielle Anonymität verloren. Was ehemals eine stumme Massenware war, wird nun mit dem Vorzug der Individualisierung feilgeboten. So materialisiert sich in nahezu jedem Flohmarktartikel ein Stück Geschichte. „Vintage“ heißt das neumodische, elegant klingende Wort für das, was vor einigen Jahren noch schnöde „Second Hand“ genannt wurde.

So weit die romantische Lesart. Diese muss man sich, wie jede Romantik, allerdings leisten können, und zwar im Wortsinn. Flohmarktromantik ist möglich, solange man genügend Geld besitzt, ausreichend neue, fabrikfrische Dinge erwerben zu können – die man dann mit liebevoll und kennntisreich ausgewählten Einzelstücken aus dem Flohmarkt-, Basar- oder Fundgrubensegment ergänzt. Fehlt dieses Geld, ist man also darauf angewiesen, Gebrauchtes zu kaufen, wirkt die Patina der abgenutzten Dinge ganz anders, ändern sich die Maßstäbe der Bewertung. Verkürzt gesagt: Wem Neuanschaffungen unerschwinglich sind, der muss gezwungenermaßen mit den Dingen leben, die andere nicht mehr haben wollen.

Momox, Shpock, Ebay

Das mag man für eine Randnotiz aus den Winkeln der Alltagskultur halten. Doch wer so urteilt, übersieht, dass der Flohmarkt zu einem Massenphänomen unseres kapitalistischen Alltags avanciert ist. Und der Handel mit dem Ungeliebten, Abgelegten findet längst nicht mehr nur am Wochenende auf extra dafür abgesperrten Park- oder Bolzplätzen statt. Der Flohmarkt in seiner globalisierten Form ist online gegangen – allzeit und allerorten verfügbar, milliardenschwer und aus der Konsumpraxis von Millionen von Menschen nicht mehr wegzudenken.

Der Weltkonzern Ebay dominiert dieses Feld mit seiner äußerst erfolgreichen „Kleinanzeigen“-Funktion, bei der Privatleute ihre Keller- oder Dachbodenleichen zum Festpreis anbieten können, statt langwierig Gebote dafür einholen zu müssen. Momox, 2006 in Berlin als Start-up gegründet, ist inzwischen ebenfalls ein weltweiter Branchenführer im Bereich „Re-Commerce“, wie der strukturierte An- und Verkauf von Gebrauchtem im Businessvokabular heißt. Hinzu kommen mittlerweile Flohmarkt-Apps wie Shpock, die ein gezieltes Suchen nach Gebrauchtartikeln in der eigenen Umgebung ermöglichen, jüngere Kleinanzeigenportale wie quoka.de und etliche produktspezifische, oft ebenfalls lokale und von Privatleuten betriebene Internetmarktplätze.

Was ehemals ein Refugium für Liebhaber und Sammler, ein anarchisches Eldorado zum Stöbern, Feilschen und ironischen Herumbummeln gewesen sein mag, ist inzwischen vollends von der Logik des ökonomischen Systems geschluckt worden. Beim Ebay-Kleinanzeigengeschäft und ähnlichen Portalen bilden sich, auch wenn es anders erscheinen mag, gerade keine Consumer-to-Consumer-Beziehungen. Stattdessen treten Verkäufer und Käufer in eine Handelsbeziehung mit einem Unternehmen. Übrig bleibt der Anschein eines unmittelbaren Tauschverhältnisses: Was der eine abgeben und der andere an monetärer Gegenleistung aufbringen möchte, muss stets die Schleusen eines übergeordneten Anbieters passieren – muss den vertraglichen Bedingungen und dem Profitinteresse eines großen Konzerns genügen.

Dies beantwortet freilich noch nicht die Frage, warum das Flohmarktprinzip derart floriert und stetig weiter expandiert. Gewiss dürfte ein härter werdender Verteilungskampf um finanzielle Ressourcen mit hineinspielen. Die einen hoffen womöglich auf Schnäppchen, die sonst nirgends zu haben sind. Die anderen vielleicht auf einen kleinen Zusatzverdienst. Auffällig ist dabei, dass etwa Ebay und Momox in ihren Werbekampagnen vor allem die Verkäufer ansprechen, nicht die Käufer. „Vom Displaywischer zum Millionär“, lautet ein aktueller Ebay-Kampagnenspruch, „Aus Alt mach Geld“ ein Slogan von Momox.

Die Fokussierung auf die Verkäufer mag auch dem von Lifestyle- und Psychologiemagazinen behaupteten Trend zum „Decluttering“ (Entrümpeln) geschuldet sein, der neuen Lust auf Minimalismus, Aufräumen und Ordnung, wie sie die japanische Sortierkönigin Marie Kondo seit einer Weile predigt. In den USA ist mittlerweile eine ganze Marie-Kondo-Bewegung entstanden, Menschen berichten beispielsweise auf ihren Blogs, wie sie ihre Vorratskammern, Garagen oder Kleiderschränke von Überflüssigem befreit haben, stellen Vorher- und Nachherfotos dazu.

Warum auch immer der oder die Einzelne sich an Onlineflohmärkten beteiligt – diese Plattformen werfen ein neues Schlaglicht auf die warenkulturelle Dimension der Dinge. Kurz gesagt besteht die kapitalistische Produktlogik ja darin, dass jedes Konsumprodukt eine doppelte Codierung enthält. So soll es einerseits einen Gebrauchszweck erfüllen: Eine Handseife muss Hände von Schmutz befreien können – sie soll aber auch ein Flair von Wohlbefinden und Immunität verströmen. Eine Kaffeemaschine ist zur Zubereitung von Heißgetränken da – je ästhetischer ihr Design, je spektakulärer die Funktionen und Geräusche, desto eher wird der banale Vorgang des Kaffeekochens zum Ereignis.

Indem also die Konsumprodukte unseres Alltags neben ihren Verwendungszwecken auch erzählerische, imaginative und semantische Ansprüche einlösen, werden sie an unsere emotionalen Bedürfnisse herangerückt. Gerade weil viele Menschen in der kapitalistischen Moderne unter dem Eindruck – oder dem tatsächlichen Druck! – von Effizienz und Funktionalität stehen, erwachen besonders starke Bedürfnisse nach sinnhaften Bedeutungen und Zusammenhängen. Und nichts kann diese Bedeutungen so umfassend liefern wie eine Biografie. Die Biografie ist der Fundus, aus dem nicht nur die eigene Identität geschöpft wird, sondern auch das Bild der anderen, der Blick auf Welt und Wirklichkeit.

Die kapitalistische Warenproduktion hat die Ressource Biografie daher längst für sich entdeckt und setzt das Biografieprinzip als warenästhetisches Stilmittel ein, etwa mit Produkten, die absichtlich auf alt getrimmt sind und nach (irgendwie) gebraucht und abgenutzt aussehen sollen. Auffallend oft geschieht das im Kleidungs- und Möbelmarkt, in den Bereichen also, die besonders tief mit der Regulierung der eigenen Persönlichkeit verbunden werden. Stonewashed-Jeans mit fabrikneu hineingefetzten Löchern oder Used-Look-Shirts, Shabby-Chic-Regale oder Kommoden im „antiken Stil“: Seit den späten 90er Jahren kümmert sich eine bestimmte Industrie um die Aneignung der Flohmarktästhetik – darauf setzend, dass die Kraft der Dingbiografie jene immateriellen Mehrwerte bietet, die zur Attraktivitätssteigerung der Waren unumgänglich sind.

Used-Look zieht nicht mehr

Was bedeutet es aber, wenn das biografische Individualitätsprinzip standardisiert wird? Wenn in einem Bekleidungsgeschäft also zehn Jeans nebeneinander hängen und alle knapp unter dem linken Knie eingerissen, am Hintern leicht verfärbt und an den Knöchelbündchen zu je drei Zentimeter abgetreten sind? Dann liegt ein performativer Widerspruch vor. Die behauptete Einzigartigkeit der Hose, ihre (schein-)biografische Ästhetik, wird durch ihre massenhafte Gleichförmigkeit konterkariert.

So scheint der massenindustriell hergestellte Vintage- und Used-Look langsam, aber sicher an sein Ende zu kommen. Sein emotionales Surplus ist weitgehend ausgereizt, verbraucht und erschöpft. Aus dem biografischen Versprechen wurde eine billige Geste. In einer Gesellschaft, in der Individualität und Authentizität die sozialen Spitzenwerte markieren, macht die kapitalistische Warenproduktion ein auf den ersten Blick unwiderstehliches Angebot: Erwirb, was du gewesen sein könntest!

Daniel Hornuff ist freier Kulturwissenschaftler

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