Freitag: Es gibt eine kleine, hübsche und sarkastische Episode in Ihrem soeben erschienen Buch "Nachwelt.", Ihrem mittlerweile dritten Roman. Die 39jährige Protagonistin Margarethe recherchiert für eine Biographie über Anna Mahler, der Tochter von Alma und Gustav Mahler, die als Bildhauerin versucht hat, aus dem Schatten des übermächtigen Vaters herauszutreten. Margarethe ist allein in Los Angeles, weil ihr Geliebter zuhause geblieben ist und sich um die Stieftochter seiner Ex-Gattin kümmert. Zwischen Liebeskummer, Sehnsucht nach der Tochter, Shopping-Ausflügen und anderen Annehmlichkeiten des Alleinseins, erinnert sie sich auch an ein vergangenes Verhältnis mit einem Wiener Dichter namens Diefenbacher, dem sie eine Schwangerschaft vorlügt, worauf der vermeintliche Vater erst einmal verreist:
Marlene Streeruwitz: Er hatte ihr nie geglaubt. Er hatte angenommen, sie hätte abgetrieben. War wütend. Böse. Er hatte einen Gedichtband für seinen Sohn geschrieben gehabt. Er war zurückgekommen nach vier Monaten und hatte gedacht, sie würde mit dickem Bauch dasitzen und auf ihn warten. Der Gedichtband war dann ein Erfolg geworden. Diefenbacher. Ein Dichter ungestümer Männlichkeit. War zu lesen gewesen. In der Weltwoche.
Mit "Nachwelt." sind Sie von Ihrem langjährigen Stammverlag Suhrkamp zu Fischer gewechselt - wieso?
Das hat den Grund, dass ich schon mit meinem letzten Stück nicht mehr zum Theaterverlag gegangen bin. Ich denke ich auch, dass ich mit meiner Art von Literatur bei Fischer besser aufgehoben, weil ich den elitär-eklektizistischen Anspruch von Suhrkamp auch nie erfüllt habe. Die Trennung ist völlig undramatisch verlaufen - so undramatisch, dass es schon langweilig war, denn natürlich wünscht man sich, dass die Verleger einem nachlaufen.
Wie sind Sie auf die Auseinandersetzung mit der Biografie von Anna Mahler gestossen, die im Roman eine wesentliche Rolle spielt?
Genauso wie die Hauptfigur: 1987 wurde mir angetragen, mit Anna Mahler ein Interview zu machen. Dann starb Anna Mahler, und ich sollte eine Biografie schreiben, für die ich in Deutschland, London, New York und Los Angeles recherchiert habe. Die Ergebnisse der L.A.-Recherche sind im Roman verarbeitet. Im Lauf der Arbeit hat sich allerdings herausgestellt, dass ich keine Biografie schreiben können würde - aus den Gründen, die auch im Buch genannt sind: weil historische Wahrheit über Urteile von Biografen nicht herstellbar ist beziehungsweise den autoritären Faktor einer Behauptung oder Urteils in sich tragen. Das ist schon von der Recherche her nicht zu machen: Die einen Leute erzählen, dass Anna Mahler Kettenraucherin war, die anderen behaupten, sie habe nie geraucht. Ausserhalb einer streng wissenschaftlichen Arbeit, bei der der Biograf die einzelnen Quellen ausweist und gegeneinander hält, ist Biografie eines dieser Genres, die die Lüge in der Literatur besonders heftig aufrecht erhalten, weswegen sie auch so ein Vergnügen sind und sich so gut verkaufen. Es macht die Welt wieder so einfach. Der andere Grund ist, dass alles, was mit der Shoa und Emigration zu tun hat, nicht erfunden werden darf. Dafür gibt es genug Zeugnisse. Für mich war es wichtig, dass das Undenkbare nicht über meine Phantasie zum Denk- und Lesbaren wird. Deswegen sind die Berichte über Anna Mahler auch eins zu eins in die fiktive Handlung eingelassen.
Die Interviews wurden nicht überarbeitet?
Nein, das ist eins zu eins abgeschrieben beziehungsweise übersetzt, wobei dann verschiedene Arten von Deutsch auch nebeneinanderstehen.
Wie lange haben Sie sich mit der Recherche zu Anna Mahler befasst?
Das hat sich schon über drei Jahre hingezogen und wurde vor zwölf Jahren begonnen. Ich war relativ häufig bei ihrer Tochter in London. Es ging aber jetzt auch nicht darum, möglichst viel von dem Material zu verwenden, sondern um das Zusammenspiel von Recherche und Romanrealität.
Haben Sie die Tonbandprotokolle schon damals oder erst im Zuge Ihrer Arbeit am Roman angefertigt?
Erst jetzt. Das ermöglicht einem einen ganz anderen Blick. Ich denke mir, dass man so etwas überhaupt erst nach zwölf Jahren gebrauchen kann - weil der Enthusiasmus, den der persönliche Umgang mit Leuten auslöst, völlig wegfällt. Es bleibt dann ganz in der Sprache.
Wie kamen denn das Recherche -Material und der Rest des Romans zusammen?
Die Romanhandlung war schon dominant, und ich habe die Gespräche auch nicht in der Reihenfolge eingepasst, in der ich sie geführt habe. Für mich ergibt sich daraus eine schöne Dramaturgie, die von den Exilanten zu den Schülern Anna Mahlers führt: Es wird gegen Ende immer amerikanischer, und auch für die Hauptfigur setzt ein leichter Verlust europäischer Identität ein. Die Grundvorstellung war schon die, dass eine Person wie Margarethe in Los Angeles herumhatscht.
Auch das "Trivialthema" der zurückgewiesenen Liebe mit all ihren Kränkungen und Depressionen ist in "Nachwelt." präsent.
Was ich interessant finde, ist, dass mir Bewusstseinsstrom-Technik immer inhaltlich erklärt wird. In der Beurteilung wird von den Sinneinheiten und nicht von der Technik ausgegangen, die die wache Welt eben einfach fortlaufend, in allen Details und ohne Abstufung von gross und klein in jedem Punkt dargestellt. Es geht eigentlich nicht darum, dass ich dieses Auf- und Nieder des Gefühls beschreiben möchte, sondern dass - brav und ganz im Sinn der Moderne - jeder Augenblick gleich wichtig ist. Und weil es die Möglichkeit des Rückgriffs auf Mythologie für den "Ulysses", nicht aber für mich und für Frauen gibt, muss ich mit der Nase schön am Boden bleiben. Als Autorin hat man, fürchte ich, keine guten Karten, wenn man literaturkritisch wahrgenommen werden will.
Was wollen die Medien von Ihnen wissen?
Ich werde zum Beispiel gefragt, ob ich weiss, dass sich alle Männer vor mir fürchten. Das wird dann im Radio auch gesendet.
Weil Sie auf den Fotos so streng schauen.
Ja, aber wie ich mich präsentiere, ist doch mein Kaffee. Das erste Foto von mir, in Theater heute, ist noch ein typisches strahlendes Achtziger-Jahre Foto. Und da sagt mir der Redakteur: "Ach, ich dachte Sie sind wieder so eine Hausfrau, die auch schreibt." Ich kann mich auch einmal heulend fotografieren lassen. Mann könnte ja auch sagen, dass sich eine Schriftstellerin streng präsentiert. Aber zu fragen, ob ich weiss, dass sich alle Männer vor ihr fürchten - das ist noch einmal eine andere Ebene. Ich würde die gerne kennenlernen: Yummie! Im Hintergrund steht immer die Frage: Ham's an Mann, und funktioniert auch alles? Weil dadurch die Hoffnung besteht, dass man doch blau strumpfig dahinlebt. Und das tue ich nicht. Da können wir uns noch lange anstrengen, bis wir als Urheberinnen und nicht bloss als Schaustück des eigenen Lebens akzeptiert werden. Da ist die Bitterkeit von Elfriede Jelinek und anderen schon zu verstehen: Wir arbeiten doch ziemlich ordentlich und hart, und was übrig bleibt, ist die Frage nach der Frisur.
Elfriede Jelinek hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Frauen kein Werk zugestanden wird. Schriftstellerinnen werden sofort als Person "abgeklopft", müssen ständig Standpunkte beziehen.
Das ist ein bisschen eintönig, das stimmt. Und auch hier wird wieder nicht von der literarischen Seite ausgegangen. Das Wichtigste war mir eben, Wahrnehmung in Sprache zu drängen, sodass der Satz über die Wüste die Wüste ist. Das ist für mich das Wichtigste. Natürlich schreibe ich nicht, um feministische Propaganda zu machen, sondern um zum Beispiel einen Berghang in die Sprache zu zerren.
Sie sind berüchtigt für Ihre Punkte, die knappen Sätze. Auch in "Nachwelt." wird dasVerb sehr konsequent ans Ende des Satzes gestellt oder überhaupt weggelassen. Das hat mitunter einen archaisierenden Effekt oder erinnert sogar an Ernst Jandls "heruntergekommene" Sprache. Worin besteht das ästhetische Kalkül?
Es ist nicht so, dass ich mir eine Gebrauchsanweisung schreibe und die dann erfülle. Ich dachte mir nur, dass meine Schreibweise der beschriebenen Welt adäquat sein soll. Und da ist eben Los Angeles, etwas, was nur mehr in Einzelzeichen und ohne Verbindung - was Verben ja immer sind - existiert. Und wenn's ein Jandl-Gedicht wird - was kanns Besseres geben? Natürlich hat es auch mit Edward Hopper und dieser Kargheit zu tun. Kargheit ist ein wichtiges Wort in diesem Zusammenhang. In diese Kargheit explodiert die Romanfigur, und über den zerhackten Realitäten schwingen dann diese langen Reflexionen.
Warum L.A.?
Weil es mich da hinverschlagen hat und ich die Situation einer allein herumwandernden Frau kenne, die so überhaupt nichts mit Ferienplakaten und dem Selbstdarstellungshintergrund prachtvoller, braungebrannter, sportlicher Menschen zu tun hat.
Wohingegen Margarethe nie aus dem Bett kommt.
Manche Eigenschaften bekommen Romanfiguren eben von ihren Herstellern mit. Ich bin ein extremer Langaufsteher. Schon mit neun habe ich einen Aufsatz zum Thema "Mein Lieblingsort" geschrieben - das waren ein Kirschbaum und das Bett. Dazwischen ist es schwierig.
Es gibt Kritikerinnen, die von Ihrem letzten Roman "Lisa's Liebe" enttäuscht waren, weil sie mitgekriegt haben, dass es sich bei dem Erzählten offensichtlich nicht schlechterdings um die Biographie der Autorin handelt. Wie balancieren Sie Fakten und Fiktionen denn aus?
Ich gehe davon aus, dass Mann und Frau in ihrer Phantasie nicht sehr weit über das hinausgehen sollten, was ihnen zur Hand ist.
Würden Sie denn auch männliche Protagonisten einsetzen?
Aber sicher! Es ist nur einfach noch so viel Stoff angehäuft, der sich mit Frauen beschäftigt. Vielleicht wäre es sogar notwendig, einmal die Gegenseite zu erforschen.
Man könnte das ja auch als Indezenz oder Anmassung ablehnen.
Das ist die Phantasie-Frage. Im Grunde beschäftige ich mich seit 12 Jahren mit der Frage: Welche politischen Eingrenzungen muss man bei Phantasien vornehmen? "Phantasie" hat diesen guten Klang, letzten Endes ist aber jedes KZ, jeder Krieg, jede Kolonialisierung zunächst einmal auch Phantasie. Was ist an Fiktion möglich und was überschreitet Grenzen, jenseits derer das Undenkbare in Lesbares verwandelt wird?
Die liberale Haltung ist: Alle Phantasien muss man zulassen, und dann gibt's noch den Jugendschutz.
Das finde ich wieder ganz falsch, denn natürlich geht's auf irgendeiner Ebene immer um das Ausforschen dieser Phantasien. Die wahre Welt der Geheimnisse beginnt ja erst jenseits des Jugendschutzes. Die Kennzeichnung von Filmen gehorcht rein formalen, vordergründigen Kriterien, die sicher zu keinem Schutz dienen, und ich glaube, dass der Jugendschutz bei den Zeichentrickfilmen am Nachmittag viel eher angebrachter wäre. Nicht, dass ich etwas verbieten möchte, aber wenn man sich damit beschäftigt, kann man mit dem Schutz vor Schmutz und Schund noch lange warten. Es sollte nur möglich sein, dass "Tom Jerry" als reine Lärm- und Aggressionsmaschine erkannt werden kann. Wobei ich die Konditionierung auf eine bestimmte Form von Humor überhaupt als die schlimmste Form betrachte, Ausgrenzung zu lernen.
Es gibt in dem Roman Anspielungen auf den kindlichen Konsum von Filmen wie "Faces of Death", einer Kompilation von realen Sterbeszenen, der Erschiessung der Ceaucescus oder von KZ-Filmen.
Das sind Dinge, die auf Erfahrung beruhen. Es müssen nicht unbedingt meine sein. Die Geschichte, dass eine Sechsjährige KZ-Filme sieht, ist aber tatsächlich meine, und es war mir auch wichtig, das zu erzählen, weil ich denke, dass das bei meinen Mitschülerinnen alles in die Verdrängung abgesunken ist oder traumatische Leerstellen im Unterbewusstsein hergestellt hat, die genau das leisten, was die SS gewollt hat - dass man es wieder machen kann, weil es gelernt ist oder es gar machen muss, weil sadistische Prägungen stattgefunden haben.
Um noch einmal auf Alma Mahler zurückzukommen ...
Diese Alma Mahler hängt ja als schrecklicher Mythos über einem, sodass man sich in manchen Augenblicken fragen muss, warum man nicht drei Komponisten, sieben Maler und 36 Architekten zu Füssen sitzen hat. Was ist an einem falsch, dass man diese Form der Adoration nicht haben kann? Wo sind die berühmten Männer, die man fördern könnte? Das ist ein bissl eine Belastung. Und nur, weil eine Frau Spezialistin in Cunnilingus ist...
... Fellatio.
Das weiss ich nicht, kann mir auch nie merken, welches welches ist - eine Vokabel, die bei Oswald Kolle nicht vorgekommen ist.
Alma Mahler hat in den letzten Jahren jendenfalls ein bisschen eine Renaissance erlebt.
Das hängt wohl auch mit der Erscheinung der Tagebücher, der Biografien und mit dem Versuch zusammen, Frauen-Ikonen herzustellen. Da bleibt aber Madame Curie doch das bessere Beispiel.
Um diese Alternative geht's ja auch in Ihrem Roman: Ein Werk schaffen oder im Leben versinken.
Betrifft das nicht jeden? In der Pubertät wird man auf die eigene Kleinheit aufmerksam und muss sich fragen, ob man der entkommen kann oder sich in die hineinfinden soll. Und dass man sich das über ein Werk erarbeitet, ist ja eigentlich schon eine sehr rechtschaffene Weise.
Die andere Möglichkeit ist die Kindererziehung: zu der die Frauen zwar von einer gewissen Politik eingeteilt werden, die aber dann doch nichts ist im Vergleich zur Schaffung eines Werkes.
Und wenn sie's nicht tut, hat sie versagt - wie es Alma und Anna ja auch getan haben, die sich für ihre Kinder nicht sehr interessiert haben.
Wenn Männer das machen, herrscht großes Verständnis dafür: Erst neulich habe ich in einer Zeitung gelesen, dass Daniel Day-Lewis Isabelle Adjani sofort verlassen hat, kaum dass diese ein Kind von ihm erwartete. Weil er die Verantwortung damals nicht übernehmen konnte, wie es dann immer heisst.
Vor allem in der Kitschliteratur gibt es das Motiv des in der Stille erzogenen Kindes, das als Erwachsener vom Erzeuger akzeptiert wird - und der ganze Weg dorthin wird total geleugnet. Das ist schon ein Raub an Frauenwelt. Und der Vater hat einen zweiten Zeugungsakt, macht die Arbeit der Frau überflüssig. Da kann ich mich schon alterieren.
Ihre Protagonistinnen gehen einkaufen, backen Torten, gehen was essen, müssen tanken. Es gibt die weit verbreitete Auffassung, derzufolgen dergleichen in der Literatur nichts verloren habe. Viele haben eine regelrechte Angst vor dem Banalen.
Die ist mir fremd. Die Unterscheidung zwischen Sonntagszeit und Normalzeit ist fürchterlich und falsch. Das Leben findet im Supermarkt statt.
Das Gespräch führte Klaus Nüchtern
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