Die erzählerischen Titel und die ästhetische Gestaltung der Cover von Lucía Etxebarrías Büchern knüpfen an Pedro de Almodóvars kinematographische Arbeiten an, mit denen Spanien in den 80er Jahren kulturell endlich wieder auf die internationale Bühne zurückkehrte. Diese Verpackung - der Umschlag ist knallrot und türkis - soll die Erwartung wecken, hier liege ein weiteres aufregendes Produkt der movida madrileña (Madrider Künstlerbewegung) vor, die mit Filmen, Musik, Tanz, Design und Journalismus von sich Reden machte. 1985 etwa provozierten Journalisten der Zeitschrift Cambio 16 ihre Leser sich mit der Aussage: "Franco, das sind auch Sie".
Thematisch gesehen spielt die movida eine Rolle, doch wirft die junge Madrider Autorin einen
e junge Madrider Autorin einen kritischen Blick auf den exzessiven Lebensstil und das euphorische Lebensgefühl im Madrid der 80er Jahre. Ihre Romane zeigen die Kehrseite des Modernisierungsschubs, der Spanien erfasste. Deutlich wird auch, dass die movida in erster Linie eine Erfindung der Kritik und neues - willkommenes - spanisches, kulturelles Exportprodukt ist. Darüber hinaus markieren ihre Texte eine neue Etappe im literarischen Schaffen, das von Strategien der movida auch abweicht. Deren Markenzeichen ist die Betonung des Visuellen, von Rhythmus und Tempo. Sie liebt es, spektakuläre Auftritte mit großen Knalleffekten zu inszenieren. Die Literatur kommt - natürlich auch ressourcenbedingt - auf andere Weise daher: der Schlüssel ist die Erneuerung der Sprache. Das ist das Verdienst in erster Linie von Dichterinnen und Dichtern und Romanautoren unterschiedlicher Couleur wie Rafael Chirbes, Javier Marías oder Antonio Muñoz Molina in den 80er Jahren. Die große schriftstellerische Aufgabe, die für spanische Autoren in der neuen Etappe auf dem Plan stand, war, eine Sprache des Erotischen neu zu erfinden. So unglaublich es klingt, "castellano" - spanisch - mit seiner großen Tradition erotischer Texte - hier sind nicht nur García Lorca und Rafael Alberti zu nennen, sondern auch Eduardo Zamacois, Alberto Insúa oder Blasco Ibáñez, dessen Romane als Vorlage für Hollywoodfilme dienten, verfügte mit Beginn des Bürgerkriegs über keine zeitgemäße erotische Literatursprache. Genau deshalb konnten lateinamerikanische Autoren des "Booms" in den 70er Jahren, etwa Julio Cortázar mit Rayuela (1974), als große Erneuerer hispanischer Literatur auftreten und den Kanon verändern.Was zuerst in der Poesie, insbesondere in weiblicher Poesie, zum Beispiel von Ana Rossetti oder Ana María Moix seit Ende der 70er Jahre, praktiziert wurde, Erotisches neu zu entdecken, findet ab Mitte der 80er Jahren Eingang in die Prosa. Es entsteht eine Kartographie des Erotischen.Für die Umsetzung des Programms, erotische Literatur zu schreiben, war ein Abarbeiten am neu entdeckten Feld und "Objekt" nötig: Benennung und Beschreibung sexueller Tabus und erotischer Praktiken. Aus heutiger Perspektive wirken viele dieser Befreiungsschläge wie platter Realismus und Voyeurismus. Beide Momente nimmt sich die Autorin vor und enthüllt sie als vermeintliche Befreiung von sexuellen Schranken. Sie porträtiert die andere Seite vom ach so aufregenden Leben im wilden Madrid. In Von Liebe, Neugier, Prozac und Zweifel wird Cristina eine der drei Schwestern, die Protagonistinnen sind, so vorgestellt: "Ich arbeite in einer Bar und jede Nacht fühle ich, daß ich irgend etwas verzweifelt brauche, aber ich weiß nicht genau was. Ich brauche einen Schwanz zwischen meinen Beinen. Das Leben ist traurig, und die Nächte in Madrid sind nicht so toll, wie alle glauben. Glaubt es mir, ich kenne sie." Etxebarrías erzählerisches Mittel ist die parodistische Beschreibungen der von Konsum bestimmten Szenerie. Sie nimmt die Obsession für das Visuelle im "neuen Spanien", die Fixierung auf Kleidung, Schmuck, das häusliche Ambiente, die Designereinrichtung, die hochmoderne Architektur, die Lichttechnik in den legendären Bars und Diskotheken Madrids aufs Korn. So kommentiert Cristina lapidar den Lifestyle ihrer Schwester: "Die Vorhänge sind von Gastón y Daniele. Der Stahlbau und die Glasarbeiten sind von Vilches, dreißigtausend Peseten der Quadratmeter. Das Design vom Geschirr, den Gläsern und der Einrichtung in der Wohnung ist durchweg von Ágata Ruiz de kla Prada." Wie in Woody Allens Klassiker Hannah und ihre Schwestern sind die Charaktere und Lebenswege der drei Schwestern sehr unterschiedlich: die Karrierefrau Rosa, die gute Ehefrau und mustergültige Mutter, Ana, und Cristina, die Gescheiterte. Eine Gemeinsamkeit haben sie jedoch: sie nehmen Drogen, weiche und harte von Alkohol bis zu Prozac. Etxebarría bleibt nicht bei der Skizzierung weiblicher Biographien unserer Zeit, die sich im internationalen Vergleich, zumindest was die Metropolen betrifft, inzwischen verdammt ähneln. Vielmehr thematisiert sie die Kontinuität der Ausgrenzung von Frauen im modernen Spanien. Ihre Unterordnung ist die Vorbedingung für die wirtschaftliche Entwicklung, das Funktionieren der Institution Familie und die ungebrochene Machtausübung des Machismo. Das Scheitern der Schwestern erklärt die Autorin mit einer psychologisch fundierten Familiengeschichte. Der Vater verschwindet auf Nimmerwiedersehen, als Cristina in die Pubertät kommt. Die Mutter wird als tragische Gestalt geschildert, die in ihrer Ehe tiefe Demütigungen hinnimmt. Als Vorbild dient Etxebarría hier der Roman Die Versucherin von Blasco Ibáñez, der die Tragödie einer Frau erzählt, der von Männern der Hof gemacht wird, die es "auf ihren Körper abgesehen haben, ohne jedoch ihren Geist zu lieben". Er wurde Vorlage für den Hollywoodfilm in dem Greta Garbo die tragische Frau spielt. Die Figur der Garbo in Verbindung mit dem Romanstoff ist von Interesse, als spätestens seit Mercedes de Acostas Biographie Hier liegt das Herz (1996) Greta Garbos "sexuelles Dissidententum" bekannt ist, ihre Vorliebe für Frauen.Um "sexuelles Dissidententum" geht es in Lucía Etxebarrías zweitem Roman Beatrix und die himmlischen Körper (2000), der in Spanien mit dem wichtigen Literaturpreis "Premio Nadal" ausgezeichnet wurde und zum Bestseller avancierte. Der große Erfolg lässt sich nicht nur mit der gelungenen Vermarktung der in Madrid lebenden Autorin baskischer Herkunft begründen. Sie schreibt einen weiblichen Bildungs- und Liebesroman, der den Nerv der Zeit trifft. Allerdings erweist sich beim Lesen das modische, psychodelisch angehauchte Weltbild der Hauptfigur Beatrix manchmal als nervig. Schauplätze der Handlung sind Madrid und Edinburgh. Dort absolviert Beatrix, ein Mädchen aus gutem Hause, ihr Literaturstudium und lebt eine sexuell erfüllende Beziehung mit einer jungen hübschen Frau names Cat. Die Edingburgher Zeit fungiert als Kontrast zum exzessiven Leben Madrids, in das Beatrix nach vier Jahren zurückkehrt, jetzt aber mit anderen Augen betrachtet: "Mit einem Mal stelle ich fest, dass Madrid eine dreckige, graue, schlecht geplante und gesichtslose Stadt ist." Beatrix sucht wieder Kontakt zu Monica, ihrer Busenfreundin aus der Jugendzeit. Diese ist nach einer klassischen Drogenkarriere in einer psychiatrischen Klinik gelandet. In episodenhaft erzählten Rückblicken auf Kindheit und Jugendzeit der Protagonistinnen entwickelt Etxebarría eine einfühlsame Liebesgeschichte junger Mädchen und Frauen im "neuen Spanien" der 80er und 90 Jahre. Darüber hinaus konstruiert sie einen Liebesraum, der ein selbstverwirklichtes weibliches Leben ermöglicht. Folgt man der französischen feministischen Theoretikerin und Schriftstellerin Monique Wittig, haben Frauen, Lesbierinnen und Homosexuelle im etablierten Sprachsystem unserer Gesellschaft keine Stimmen von Gewicht. Ihnen ist die Macht des "Benennens" verwehrt. Literatur dient als Freiraum und Experimentierfeld, um diesen Stimmen Raum zu geben. In der Darstellung verschiedener konkurrierender Liebesideale heterosexueller-, bisexueller-, homosexueller Provenienz, die von den Figuren gelebt werden, versucht Etxebarría zu einer Neubetrachtung der Kultur der Liebe, ihrer Bilder und Darstellungsweise zu kommen. So lässt sie Beatrix am Ende des Romans verkünden: "Es gibt Millionen Paare auf der Welt, die ihre Beziehung mit Hilfe eines starken Willens und kleiner Kompromisse aufgebaut haben. Es gibt Millionen Menschen, die von der Person an ihrer Seite keine hundertprozentige Kompatibilität und nicht dieselben Vorlieben verlangen. Das Streben nach Perfektion zerstört die Gefühle, der Durst nach dem Absoluten, die Angst vor der Gewohnheit, die ewige Sehnsucht nach dem Unmöglichen, die ständige Weigerung, uns so zu akzeptieren, wie wir sind, und die anderen zu akzeptieren, wie sie sind."Lucía Etxebarría: Von Liebe, Neugier, Prozac und Zweifel. Roman. Aus dem Spanischen von Ralph Amann. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1998, 314 S., 39, 80 DMLucía Etxebarría: Beatriz und die himmlischen Körper. Roman. Aua dem Spanischen von Catalin Rojas Hauser. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2000, 347 S., 44,- DM
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