Eheporno „Das leichte Leben“: Sie stöhnt gespielt laut

Literatur Thomas Melles neuer Gesellschaftsroman „Das leichte Leben“ ist ein Ärgernis, macht fast schon wütend. Über einen Eheporno bei dem man sich fragt: Kann das nicht aufhören?
Ausgabe 38/2022
Thomas Melle seziert jede sexuelle Ein- und Auslassung in bisweilen Houellebecq’scher Manier
Thomas Melle seziert jede sexuelle Ein- und Auslassung in bisweilen Houellebecq’scher Manier

Foto: Imago/agefotostock

Wo sind sie denn, die großen Gefühle? Ausverkauft? Oder vielleicht dahinten auf dem Wühltisch, und vielleicht lassen sie sich dort noch rausziehen unter den Dildos und Fetischmasken. Überhaupt, das mit dem Sex. Bringt das denn was? Was kommt nach dem Orgasmus? Sofern er nicht vorgetäuscht ist. Kathrin und Jan schlafen eigentlich gar nicht wirklich miteinander, sie imitieren lediglich Mimik, Gesten und Geräusche von Pornodarstellern. Also so: Sie stöhnt gespielt laut, er kommt „so kamerawirksam“, wie er kann. Die Krux: Es läuft keine Kamera.

Dabei hat Kathrin, die sich sexuell ins Schauspiel flüchtet, eine Fiktionsallergie, die sie mit exzessivem Konsum von Dokumentationen kompensiert, je realitätsbrutaler, desto besser. Und Jan? „Totes Fleisch war er, (…) filetiert und bereit zum Verzehr.“ Und das schon lange: Als Internatsschüler war er den erotischen Fantasien eines Paters ausgeliefert.

Radikale Ernüchterungsliteratur à la Thomas Melle. Das leichte Leben ist nach seinem großen autobiografischen Erfolgsroman Die Welt im Rücken eine nächste Unternehmung, den Wirklichkeitsdruck ins Unermessliche zu treiben, nicht lockerzulassen, niemals nie. Nichts dagegen. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, machte einst Ingeborg Bachmann deutlich. Es stimmt aber auch, wie es in der Bibel heißt, dass „ein jegliches seine Zeit hat“. So hatte Melle einst mit der Offenbarung seines manisch-depressiven Lebensschmerzes wohl einen Nerv getroffen: Die Kritiken waren weitestgehend euphorisch, erneut schaffte er es, und wie bereits wiederholt, auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Erzählstoff von Thomas Melle hat ein Verfallsdatum erreicht

Die Welt im Rücken erschien im Jahr 2016, seither hat sich die Welt weitergedreht, Krise um Krise produziert, und es ist die Frage, ob Menschen, derart lädiert, gebeutelt und angstzerschunden, überhaupt empfänglich sind für die große, die erschreckende Leere, die sich auftut, sobald man sich auf den Melle-Kosmos einlässt. Anders gefragt: Wie zeitgemäß ist Literatur, die eiskalt temperiert ist, während tatsächlich zu befürchten steht, dass die Gesellschaft, völlig unmetaphorisch gesprochen, frieren muss? Und überhaupt, wie viele Protagonisten sollen eigentlich noch lebenserschöpft und sinnfragend auf Streifzug durch Berlin-Mitte geschickt werden oder in großstädtischen Altbauwohnungen bei gutem Rotwein über ihre monoton gewordenen Beziehungen sinnieren? Derartiger Erzählstoff hat inzwischen sein Verfallsdatum erreicht. Dass Melle es trotzdem macht und mit der einst gehypten Schriftstellerin Kathrin und dem gefeierten TV-Journalisten Jan ein klassisches unbefriedigtes Paar präsentiert, das, laut Ankündigung, „gefangen (ist) in den Konventionen der Ehe und des bürgerlichen Lebens“, macht einen fast schon wütend – kann das denn nicht aufhören? Aber vielleicht ist das mit der Wut gar nicht mal so übel.

Und vielleicht bleibt uns einfach nichts anderes übrig, als uns weiter an den Körpern abzuarbeiten. Gelegenheit dazu gibt es bei Melle genug, der jede sexuelle Ein- und Auslassung in bisweilen Houellebecq’scher Manier seziert. Nicht zufällig beginnt der Roman mit „Und der Vogel besprang den Vogel“. Was erzählt die Macht des Animalischen über uns? Als Gegenmittel anthropologischer Hybris weist sie uns den angemessenen Platz zu. „Der Mensch ist das Tier, dem man seine Lage erklären muss. Hebt es den Kopf und blickt über den Rand des Offensichtlichen, wird es vom Unbehagen am Offenen bedrängt“, analysiert Peter Sloterdijk in Die schrecklichen Kinder der Neuzeit (2014). Bei Jacques Lacan, zu dessen Lektüre Das leichte Leben einen regelrecht drängt, bekommt der Mensch immerhin seine Wirkmächtigkeit zurück: „Das sprechende Wesen unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass es danach strebt, auf den Körper oder auf die Körper einzuwirken.“ Was bleibt, ist die Frage, wohin sich die Menschheit entwickelt. Von Niederem zu Höherem? Oder umgekehrt? Melle sorgt derweil weiterhin dafür, dass wir dem Nackten nicht entkommen.

Das leichte Leben Thomas Melle Kiepenheuer & Witsch 2022, 352 S., 24 €

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