Früher habe ich davon geträumt, dass Menschen sich selbst regieren könnten. Doch wiesen mich zuerst meine Lehrer, später meine Dozenten, darauf hin, dass direkte Demokratie nicht möglich sei: Die Pariser Kommune von 1871 dauerte nur 72 Tage, die Räterepubliken von 1918/19 währten ebenfalls nicht lange, und die russischen Sowjets wurden schon bald von einer Partei beherrscht, die eine demokratische Entscheidungsfindung zu unterdrücken wusste. Die Aufgabe eines Staates sei zu komplex, als dass sie direkt vom Volk wahrgenommen werden könnte, war letztlich eine bewährte Antwort auf meine Frage. Eines Besseren wurde ich belehrt, als ich 1999 in Argentinien erstmals davon hörte, dass im brasilianischen Porto Alegre die Bürger über
er den Stadthaushalt entscheiden. Begeistert von meinem ersten Besuch in der Stadt, kehrte ich immer wieder dorthin zurück. Der Bürgerhaushalt hatte mein Interesse geweckt.Schub für die ZivilgesellschaftIn Porto Alegre treffen sich seit 13 Jahren Bürger zu Versammlungen, in denen sie eine Liste mit den wichtigsten Investitionen für ihren Wohnbezirk erstellen. Dies geschieht, indem zuerst über Investitionsbereiche abgestimmt wird. Möchte zum Beispiel jemand eine Buslinie erweitert haben, wird er dazu aufrufen, für den Bereich »Verkehr und Transport« zu stimmen. Soll eine Schule saniert werden, ist ein Votum für den Bereich »Erziehung« nötig. Insgesamt stehen 14 Investitionsfelder zur Auswahl. Die mit den meisten Stimmen bekommen die meisten Gelder zugesprochen. Der konkrete Auftrag innerhalb eines Bereiches - beispielsweise der Verlauf einer Buslinie - wird von einem so genannten »Forum« entschieden, zu dem die Bürger Delegierte entsenden können. Außerdem wählen die Vollversammlungen auch Vertreter für den »Rat des Bürgerhaushaltes«. Der hat sicherzustellen, dass in der Haushaltsvorlage die von den Basisversammlungen definierten Prioritäten berücksichtigt werden. Um dieser Aufgabe nachzukommen, treffen sich die Mitglieder des Rates zwei Mal pro Woche. Sie werden von der Verwaltung informiert, die ebenfalls im Rat vertreten ist, jedoch über kein Stimmrecht verfügt. Die Ratsmitglieder selbst haben ein imperatives Mandat - sie können jederzeit von der Basis abberufen werden. Der Einfluss des Bürgerhaushaltes in Porto Alegre zeigt sich besonders in der Prozedur, die Haushaltsvorlage erst dann zur Abstimmung im Stadtparlament einzureichen, nachdem der Rat sein Plazet gegeben hat.Der Bürgerhaushalt hat Porto Alegre zweifellos verändert. Wo früher Elendsviertel wucherten, besitzen deren Bewohner heute Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen. Es gibt Müllentsorgung und Kanalisation. Die transparente Aufstellung des Haushalts hat das vertraute System von Korruption und Klientelismus durchbrochen. Heute werden im Bürgerhaushalt die Gelder zwischen insgesamt 16 Wohnbezirken nach drei Prinzipien verteilt: nach von den Bürgern reklamierten Prioritäten, nach Qualität der vorhandenen Infrastruktur und der Bevölkerung. Basisdemokratie und soziale Gerechtigkeit sind die Essentials, denn die Verteilungskriterien sorgen dafür, dass Bezirke Vorrang haben, in denen viele unter einer mangelnden Infrastruktur leiden.Dadurch wird zugleich die Zivilgesellschaft befördert, da die Bürger im Interesse ihrer Vorstellungen darauf angewiesen sind, andere vom Nutzen und der Notwendigkeit ihrer Optionen zu überzeugen. Ein Projekt hat nur Erfolgsaussichten, wenn es von möglichst vielen unterstützt wird. Aber es kommt auch vor, dass in den Gremien des Bürgerhaushaltes durch Verständnis für eine Notlage Entscheidungen zu Gunsten besonders benachteiligter Bürger getroffen werden - der Gewinn für die demokratische Kultur und den sozialen Zusammenhalt ist unbestreitbar.Verrat am Arbeiter?Bei allem Erfolge sollten auch Grenzen des Projekts klar umrissen werden. Nach 13 Jahren Bürgerhaushalt hat die Armut in Porto Alegre nicht abgenommen. Der Bürgerhaushalt ist nicht in der Lage - von Ausnahmen abgesehen - Arbeit und Einkommen für die Bürger zu schaffen. Die Kommune verfügt verständlicherweise nicht über das Kapital, in größerem Ausmaß Wohnungen zu bauen. Nachdem jahrelang investiert wurde, sind die laufenden Kosten für die neugeschaffenen Einrichtungen derart gestiegen, dass die Verwaltung genötigt ist, neue Einnahmequellen zu erschließen, was vor allem durch eine Reform der Grundstückssteuer geschehen soll. Alles im allem zeigt das Beispiel dennoch, dass und wie direkte Demokratie funktionieren kann. Die UNO bescheinigt Porto Alegre, weltweit eines der besten Beispiele öffentlicher Verwaltung zu geben.Der Sieg »Lula« da Silva bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2002 kam in dieser Hinsicht nicht von ungefähr. Einen Bürgerhaushalt gibt es nämlich nicht nur in Porto Alegre, sondern in den meisten von seinem Partido dos Trabalhadores (PT) regierten Städten. So konnten viele Brasilianer erfahren, wie ein anderer Regierungsstil aussehen kann. Für Tarso Genro, einen ehemaligen Bürgermeister von Porto Alegre, geht es um die »Transformation des Staates«, um einen »anderen Staat« zu schaffen. Instrument sei die »Radikalisierung der Demokratie«, für die der Bürgerhaushalt zum Symbol wurde. Der Staat soll durch die Öffentlichkeit kontrolliert werden. Raul Pont, noch ein Ex-Bürgermeister der Stadt und anerkannter Sprecher der PT-Strömung Democracia Socialista, erhofft sich, wie er auf dem Weltsozialforum erklärt, durch den Bürgerhalt die Zivilgesellschaft dahingehend zu stärken, dass sie eines Tages in der Lage sein wird, den Sozialismus zu erkämpfen. Eine weitere Gruppe, die sich im PT unter dem Namen O Trabalho sammelt, lehnt den Bürgerhaushalt ab, das sei ein Verrat am »kämpfenden Arbeiter«. Dieser Haushalt kooptiere die Arbeiter und halte sie davon ab, die wahre Ursache ihres Elends, den Kapitalismus, zu bekämpfen. Als Beweis wird der Umstand angeführt, dass der Bürgerhaushalt von der Weltbank unterstützt wird. Die hat tatsächlich Veranstaltungen und Publikationen zum Projekt gefördert, das von ihr als ein Instrument »gutes Regieren« eingestuft wird. Porto Alegre hat es immerhin geschafft, sich aus chronischer Verschuldung zu lösen. Auch konnten drohende Privatisierungen abgewendet werden. Die Stadt ist der Beweis dafür, dass öffentliche Betriebe effizient geführt werden können.Der Bürgerhaushalt steht dabei für keine politische Tendenz. Die wird allein durch den politischen Kontext geprägt. In Deutschland wird versucht, denselben mit dem Konzept »Bürgerkommune« neutral zu halten, in der den Bürgern eine Mitgestaltung bei den Leistungen der öffentlichen Verwaltung angeboten wird. Nachahmer in DeutschlandIn zwölf deutschen Kommunen wurde bereits eine Bürgerbeteiligung am Haushalt eingeführt wie im nordrhein-westfälischen Castrop-Rauxel oder im badischen Rheinstetten. Allerdings stand hier nicht Porto Alegre, sondern die neuseeländische Stadt Christchurch Pate. Ein Unterschied zu den brasilianischen Modellen besteht darin, dass in Deutschland die Partizipation bisher auf Konsultation beschränkt ist. Statt Investitionen werden vor allem Ausgaben für Schwimmbäder, Bibliotheken und andere kostenschwere Einrichtungen diskutiert. Dies lässt sich durch die veränderten Rahmenbedingungen erklären, denn im Wohlstandsland Deutschland steht nicht die Versorgung mit Basisdienstleistungen (Wasser, Strom, Müllentsorgung) im Vordergrund, sondern der auf den Kommunen lastende finanzielle Druck.Im Gegensatz zu Frankreich und Spanien, wo ein Bürgerhaushalt zum Teil in direkter Kooperation mit Fachleuten aus der Stadtverwaltung von Porto Alegre entwickelt wurde, ist in Deutschland diese Projekt noch kein Thema der Linken. Nachdem Grüne und SPD Seminare organisierten, hat sich nun auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung entschlossen, dem Bürgerhaushalt mehr Gewicht zu geben. Während jedoch in Brasilien die Bürgerbeteiligung am Haushalt Ausdruck des Willens der Lula-Partei ist, sich die Macht mit dem Bürger zu teilen, ist man in der PDS noch weit davon entfernt, den Bürgerhaushalt mit einer politischen Vision zu verbinden. Ein klares Zeichen wäre es jedenfalls, wenn die Partei ein solches Verfahren in einer Stadt einführt, in der sie an der Regierung beteiligt ist, etwa in Berlin. Da dies bisher noch nicht geschehen ist, sind vor allem außerparlamentarische Kräfte gefordert, derartigen Vorhaben näher zu treten.Zum Weiterlesen: Carsten Herzberg, Der Bürgerhaushalt von Porto Alegre. Wie partizipative Demokratie zu politisch-administrativen Verbesserungen führen kann, Münster-Hamburg, Lit-Verlag 2002 / Carsten Herzberg / Christian Kasche: Modell Porto Alegre. Der Bürgerhaushalt auf dem Prüfstand, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 11/2002, S. 1375-1384 sowie www.buergerhaushalt.de
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