Das Märchen der Susan Boyle

Medientagebuch Mediale Mechanik: Der kometenhafte Aufstieg der Susan Boyle von der unbekannten Arbeitslosen zum Gesangs-Star zeigt die Schwarm- und Lawinenlogik der neuen Medien

Es ist schon eine Herausforderung, Susan Boyle zu beschreiben, ohne herablassend oder beleidigend zu klingen. Die sicherste Bank sind abgedroschene Formeln wie die vom häss­lichen Entlein, das über Nacht zum Schwan wird. Was aber die Ereignisse nicht wirklich wiedergibt, denn Susan Boyle, wie sie auf die Bühne der britischen Talentsuch-Show Britain’s got ­Talent trat, war alles andere als ein „Entlein“, sondern eine ausgewachsene, sehr durchschnittlich aussehende Frau mittleren Alters. Und sehr durchschnittlich soll heißen: unvorteilhaft frisiert, ungeschickt gekleidet, dazu übergewichtig. Im Publikum rollten ­einige die Augen, und die drei Juroren konnten sich Häme nicht verkneifen, als die 47-Jährige auf Nachfrage verkündete, eine professionelle Sängerin wie Musical-Superstar Elaine Paige werden zu wollen. Dann begann sie zu singen, mit einer so kräftigen und schönen Stimme, dass es das Publikum vor Überraschung aus den Sitzen riss und ihr Auftritt mit stehenden Ovationen zu Ende ging. Selbst den Juroren stand das Wasser in den Augen. Wer es noch nicht gesehen hat, der kann es auf You Tube nachholen.

In fünf Tagen von Null auf 50 Millionen Klicks

Millionen haben das bereits gemacht. Und wurden damit gleichzeitig zu ­Bewerkstelligern wie Zeugen des kometenhaften Aufstiegs von Boyle: von der Anonymität zur globalen Berühmtheit. Die Kommentare der Blogger und Feuilletonisten folgten auf dem Fuß.

Zwar hat die Welt mit Paul Potts vor zwei Jahren etwas Ähnliches erlebt, doch Susan Boyle macht es in der Wiederholung nun noch schöner: In unseren bildmedien-zentrierten Zeiten, in denen selbst Opernstars wie Models aussehen, ist es ausgesprochen erholsam, die alte ­Ermahnung, dass man Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen soll, in ihr Recht versetzt zu sehen.

Und dabei ist ihr sehr durchschnittliches Aussehen nicht die einzige Eigenschaft, die Susan Boyle bis dato zur Randexistenz verurteilt hat. Ihr Alter, ihr Frausein, ihre Arbeitslosigkeit und die Herkunft aus der schottischen Provinz kommen noch dazu. Dass sie gegen all diese odds nun ihren großen Moment erlebt, ist vielleicht nur deshalb möglich, weil sich an ihrem Beispiel die neuen Medien mit ihrer Schwarm- und Lawinenlogik – in fünf Tagen von totaler Unbekanntheit zu 50 Millionen Aufrufen bei You Tube – so gut selbst feiern können.

Das Video des Auftritts von Susan Boyle finden Sie hier

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden