Meine Damen und Herren, vor Ihnen steht der Artikel 155, der in den Untiefen der spanischen Verfassung entstanden ist. Er wird die katalanische Selbstverwaltung verwüsten.“ Im beliebten Satireprogramm Polònia von Televisió de Catalunya erscheint der berüchtigte Verfassungsartikel als riesiges Monster. Noch ist es gefesselt. Doch die Dompteure – Premier Rajoy und seine Stellvertreterin Sáenz de Santamaría – haben es nicht im Griff. Das Monster stürmt los, ungestüm und haltlos. Es ist eine zutreffende Metapher für das, was die Regierung in Madrid vor Tagen beschlossen hat. Sie setzt auf die harte Lesart eines Artikels, der noch nie zur Anwendung kam. Verstößen der katalanischen Regierung gegen die staatliche Ordnung wird mit drakonischen Maßnahmen begegnet. Sie reichen von der Zwangsabsetzung des Premiers Puigdemont und der Entmachtung des katalanischen Parlaments über die Kontrolle von Televisió de Catalunya und Catalunya Ràdio bis hin zur Ausrufung von Neuwahlen in Katalonien. Zu denen soll es innerhalb von sechs Monaten kommen, sobald die „institutionelle Normalität“ wiederhergestellt ist. Bis dahin wird Katalonien von Madrid aus regiert.
Auf dem Papier sind es harte Maßnahmen, noch härter wird ihre Implementierung. Vor allem angesichts des Widerstanden, den sie auslösen. So kündigte der Betriebsrat von Catalunya Ràdio wenige Stunden nach Bekanntgabe des 155-Maßnahmenpakets bereits an, dass man die Autorität der Regierung in Madrid nicht anerkennen werde. Für „wahrhaftige, objektive und ausgewogene Informationen“ könne der Sender selbst sorgen. Keine Frage, die Mehrheit der Katalanen sieht Artikel 155 als Vergeltung für den Unabhängigkeitskurs, als Strafe für den neuen Gesetzesrahmen, wie ihn das Parlament de Catalunya am 6. und 7. September beschlossen hat, und für das Referendum vom 1. Oktober, das den katalanischen Konflikt auf die internationale Krisenagenda brachte.
Nun wird die Staatsmaschinerie in einem Ausmaß mobilisiert, das es seit 1981 nicht mehr gab, als Teile des Militärs gegen die Demokratie putschten. Damals wie heute schließen sich die Reihen der staatstragenden Parteien: des Partido Popular (PP), des sozialdemokratischen PSOE wie der rechtsliberalen Ciudadanos, die momentan die antikatalanische Hetze des PP noch übertreffen. Nicht nur rechte Nostalgiker, auch linke Reformer reden von der Einheit der Nation, die es ohne Wenn und Aber zu verteidigen gelte. Die Medienkonzerne und das Königshaus ziehen nach. Plötzlich sieht man in vielen Städten die Rojigualda, die Nationalflagge, hängen. Die politische Stimmung tendiert nach rechts.
Die Kontrahenten in Madrid und Barcelona tragen den nationalen Konflikt wie einen Überlebenskampf aus. Das macht die Lage so dramatisch. Wer indes meint, nun müsse die Verfassung mit allen Mitteln verteidigt werden, der vergisst: In Katalonien stehen keine Putschisten, sondern Demokraten. Was Rajoy als legitimer Eingriff gilt, bedeutet für eine Mehrheit der Katalanen eine illegitime Aufhebung der Autonomie. Und dies ausgerechnet zum 40-jährigen Jubiläum der Rückkehr von Präsident Josep Tarradellas aus dem Exil, als eine demokratische Selbstregierung Kataloniens nach der langen Nacht des Franquismus zurückkehren durfte. „Catalunya, un sol poble“ (Katalonien, ein einziges Volk) – was der Unabhängigkeitsbewegung nicht gelang, die Einheit der Katalanen, könnte dem Abwehrreflex gegen das Verfassungsmonster 155 zu verdanken sein: Eine breite Allianz für das Recht auf politische Selbstbestimmung. Zwei Züge rasen aufeinander zu, und die meisten Insassen zittern.
Kommentare 7
"...Wie würde der katalanische Sezessionismus seinen Wohlstandschauvinismus wohl rechtfertigen, wenn Podemos die Regierung in Madrid stellte? Zieht man von den derzeitigen Argumenten für die Abspaltung, zu der es angeblich keine Alternative gibt, das übliche neoliberale und völkische Substrat ab, dann bleibt das wohl Schäbigste übrig, ein sich progressiv gerierender Chauvinismus der Mittelschicht. Was gibt es Unsolidarischeres als die Abkapselung eines gesellschaftlich und sozialpolitisch bessergestellten Kantons von seiner Umgebung, die als richtiges Leben im falschen verkauft wird und doch nur den Verbleib im Club der Wohlhabenden garantieren soll? Was gibt es Gefährlicheres und Dümmeres für eine Linke, als den Zerfall in Kleinstaaten zu beklatschen, zumal diese keine sozialistischen Gegenmodelle, sondern bloß provinziellere Filialen des bürgerlichen Staates vorstellen, bestenfalls sozialdemokratisch gemanagte gated communities mit kulturellen Zugangsbeschränkungen?
Um die Farce perfekt zu machen, bliebe zu wünschen, dass all die Mousepad-Revoluzzer ihren Tweets und Posts Taten folgen ließen und als Internationale Brigaden »in dem Tal dort im Río Jarama« ihr Blut vergössen für jenes katalanische Paradies aus ihrer Phantasie, in dem Arbeit und Kapital, Inländer und unspanische Ausländer, Mensch und Stier Hand in Hand und Hand in Huf aus voller Brust das Lied der katalanischen Freiheit singen: »Der Feind soll zittern, wenn er unsere Fahne sieht. … Verteidiger des Landes, ein guter Schlag mit der Sichel!«
Übertönen wird es das Lied des Kommandanten Buenaventura Durruti, das geisterhaft durch leere Gassen hallt: »Soll die Bourgeoisie ihre Welt in Stücke sprengen, bevor sie von der Bühne der Geschichte abtritt. Wir tragen eine neue Welt in uns, und diese Welt wächst mit jedem Augenblick heran.«
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<<In Katalonien stehen keine Putschisten, sondern Demokraten. Was Rajoy als legitimer Eingriff gilt, bedeutet für eine Mehrheit der Katalanen eine illegitime Aufhebung der Autonomie.>>
Doch, es ist ein Putsch, noch dazu ein dilletantischer. Keiner weiß, ob wirklich die Mehrheit der Katalanen hinter einem Unabhängigkeitsbegehren stehen. Und Putschdämon will es auch gar nicht wissen. Andernfalls hätte er gestern Neuwahlen für Dezember ausgerufen und damit die Anwendung des Art 155 vermieden.
Die Ablehnung zeigt auch, wie blödsinnig der Ruf nach Vermittlung durch die EU ist. Was hätte denn ein wirklich "neutraler" EU-Vermittler raten sollen? Natürlich Neuwahlen unter Aufsicht von EU Wahlbeobachtern!
Dilletantisch war auch, mal eben die Unabhängigkeit auszurufen, ohne dass wir wissen, ob das nun wirklich erfolgt ist, und andererseits keine Vorkehrungen getroffen zu haben, dass wenigstens irgendein Land in Europa die Unabhängigkeit Kataloniens anerkennen würde.
Putschdämon sollte ein paar Monate in einer Ausnüchterungszelle der Guardia Civil verbringen und dort über seinen dilettantischen Coup nachdenken. Vielleicht kommt dann doch noch was Brauchbares für Katalonien zustande?
Sollte es doch länger dauern, ist abzusehen, dass die Unabhängigkeitsbefürworter mit ihren Dauerdemonstrationen gegen die Zwangsmaßnahmen der Madrider Regierung Katalonien wirtschaftlich zugrunde richten werden, ohne dass damit wenigstens die Unabhängigkeit erreicht würde. Schade für die einfachen Werktätigen, in deren Namen das ja alles angeblich veranstaltet wird.
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung beginnt mit
"Wenn es im Laufe der geschichtlichen Ereignisse für ein Volk notwendig wird, die politischen Bande zu lösen, die es mit anderen verknüpft hat, ..."
und hatte, wie sich die Bilder gleichen, das erbitterte Festhaltenwollen in London zur Folge. Noch kostet die Haltung Rajoys kein Blut. Aber daß die spanische Vefassung keine Scheidung vorsieht, schützt Spanien wie aktuell zu sehen ist, nicht vor Unabhängigkeitsbestrebungen.
In diesem Zusammenhang ist das Verhalten der EU mehr als unverständlich, weil doch die EU-Verfassung seinen Mitgliedern ein Recht auf einen Exit einräumt. Es ist nicht anzunehmen, daß es in der EU einmal bedauert wird, nicht einmal Vermittlungen angeboten zu haben.
Rajoy scheint gewillt die Katalanen eher kujonieren und konditionieren, als einen Ausgleich finden zu wollen. Er hat den "155" aktiviert, die Auswege aus der Krise werden weniger und wenn er und Puigdemont ins Gefängnis schickt, wird er bei den hoch emotionalisierten Katalanen kaum einen Gesinnungswandel erreichen - unabhängig von den Zahlen von Menschen die für Verbleib oder Loslösung von Spanien stehen davon wie Rajoys Neuwahl am 21. Dezember ausgehen wird.
Auch die Machthaber in der EU sollten darüber nachdenken, was die EU verlieren oder gewinnen könnte, wenn sie unabhängig gewordene Regionen als Staaten insgesamt behält? Aber charakterlich stehen unsere Politiker wie der Kaiser ziemlich nackt da!
[i]Was hätte denn ein wirklich "neutraler" EU-Vermittler raten sollen? Natürlich Neuwahlen unter Aufsicht von EU Wahlbeobachtern![/i]
Wieso das denn? Katalonien hat doch eine gewählte Regionalregierung. Wieso muss neu gewählt werden? Weil Madrid und Brüssel die Regionalregierung nicht passt? Man sieht jetzt u.a. sehr gut, was die vielgepriesene Autonomie der spanischen Regionen wert ist: nämlich schlicht gar nichts. Im Ernstfall wird sie einfach kassiert. Ich dachte immer, es wäre ein europäischer Wert, Konflikte im Dialog zu lösen. Dabei hätte die EU gut moderieren können. Stattdessen erklärt sie das starke Streben von 2,5 Mio Katalanen (= Europäern) nach Unabhängigleit, für eine innerspanische Angelegenheit, mit der sie nichts zu tun habe. Was für eine klägliche Haltung, insbesondere des EU-Parlaments! Freude schöner Götterfunken war gestern - und "Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt" ist zum Totlachen.
Ein neutraler Vermittler kann aber nicht nur die Interessen und Befindlichkeiten der Katalonier berücksichtigen, sondern muss auch der Zentralregierung in Madrid etwas anbieten. Nach dem verunglückten Referendum zur Unabhängigkeit, das mit 42% Wahlbeteiligung kein wirklich überzeugendes Ergebnis erbracht hat, wären Neuwahlen ein Kompromiss, mit dem beide Seiten leben könnten. Würde bei solchen Neuwahlen ein deutliches Ergebnis zugunsten der Separatisten herauskommen, dann wären Zwangsmaßnahmen der spanischen Zentralregierung kaum noch moralisch durchsetzbar.
Da aber beide Seiten an einer ernsthaften Vermittlung durch die EU offensichtlich nicht wirklich interessiert sind, tut die EU gut daran, sich garnicht erst einzumischen.
"Eine breite Allianz für das Recht auf politische Selbstbestimmung."
Auf welches Gebiet bezieht sich "Selbstbestimmung"? Auf ganz Spanien? Dann kann nur ganz Spanien abstimmen.
Oder auf jede einzelne Provinz? Dann könnte die Provinz Barcelona, die zur Region Katalonien gehört, darüber abstimmen, ob es die Unabhängigkeit Kataloniens mitmachen möchte oder nicht.
Dann wäre Katalonien ohne Barcelona. Würden die begeisterten National-Katalanen das akzeptieren? Weil es ja demokratisch wäre?
Es gibt tatsächlich einige Gebiete innerhalb Kataloniens, die nicht in die Unabhängigkeit möchten (u.a. Val d'Aran). Es geht hier also nicht um ein rein theoretisches Modell.
Die Mondialisten haben eine Petition für ein geeintes, föderales Spanien, einschließlich Katalonien, verfasst.
Kurzlink zur Petition bei Change.org: https://tinyurl.com/y7un2kbz
Petition als PDF-Datei: https://www.web-hostel.de/userdaten/000020/53/download/petition_katalonien.pdf
Wir bitten um Unterstützung und Verbreitung.
Herzlichen Dank im Voraus
Richard Maxheim
für die http://mondialisten.mozello.de/