Das Morgen ist nah

Wirtschaft Kurzarbeit und Soforthilfen federn diese Krise für viele Arbeitnehmer ab. Drängende Fragen werden dadurch aber nur vertagt
Ausgabe 20/2020
Dass unsere Politik Abstand von den Herstellern stinkender Autos nimmt, will wohl niemand behaupten
Dass unsere Politik Abstand von den Herstellern stinkender Autos nimmt, will wohl niemand behaupten

Illustration: der Freitag

Um sich herum hört Jens Kruse jetzt öfter, dass sich die Leute aufregen: darüber, dass sie nicht tanzen gehen können. Dass ihr Lieblingsfestival im Sommer ausfällt. Oder darüber, dass sie für ihre Konzertkarte womöglich nur einen Gutschein bekommen werden. Er wünscht sich dann, er hätte solche Sorgen. Denn Jens Kruse, der eigentlich anders heißt, ist Veranstaltungstechniker. Veranstaltungen aber finden derzeit kaum statt. Kruse hat zuerst Überstunden abgebaut, jetzt ist er auf „Kurzarbeit null“: Er bezieht zwei Drittel seines Gehalts, muss aber zu Hause bleiben. „Ich mache mir große Sorgen um meinen Arbeitsplatz“, sagt Kruse.

Zu Beginn traf die Corona-Pandemie die Wirtschaft, die meisten Firmen und Millionen von arbeitenden Menschen ähnlich wie ein Schneesturm: Fallen zwei Meter Schnee, dann müssen wie im Lockdown alle Betriebe schließen, alle Beschäftigten zu Hause bleiben, mit den wenigen und bekannten Ausnahmen, etwa im Einzelhandel oder im Gesundheitssektor. Ob Friseurin oder Erzieher, Fließbandarbeiterin in der Autofabrik oder Veranstaltungstechniker: Eine Ausgangssperre gilt für alle gleich.

Der Betrieb, in dem Jens Kruse arbeitet, spürte die ersten Verwehungen schon, als die meisten Menschen in Deutschland das Coronavirus noch nicht wirklich auf dem Schirm hatten: Die Mobilfunkmesse MWC in Barcelona im Februar, mit Ausstellern und Besuchern aus China, wurde abgesagt, der Auftrag hinfällig. „So ging es dann im Wochentakt weiter“, sagt Kruse. „Manchmal habe ich um 10 Uhr mit dem Aufbau eines Events angefangen, war um 15 Uhr zu Hause und bekam um 16 Uhr einen Anruf, ob ich nicht schnell wieder zum Abbau kommen könne, weil die Veranstaltung kurzfristig abgesagt wurde.“ Inzwischen arbeiten ein paar Kollegen noch am Aufbau einer festen Installation bei einem Kunden, davon abgesehen gibt es rein gar nichts mehr zu tun.

Angst hemmt Nachfrage

Sobald jener Schneesturm dann nachlässt und man sich wieder hinauswagen kann, zeigt sich: Je länger die Pandemie dauert, desto unterschiedlicher sind die verschiedenen Bereiche der Wirtschaft betroffen. Manche Sektoren werden sich rasch aufrappeln, ohne bleibende Schäden. Andere wissen jetzt schon, dass sie auf lange Zeit mit den Folgen der Pandemie kämpfen werden. Wieder andere stehen nun vor einem Geschäftsmodell, das sich nie mehr erholen wird. Wie das bei Kruses Betrieb aussieht, ist noch nicht klar – zu unabsehbar ist, wo ab wann mit welcher Besucherzahl wieder Veranstaltungen möglich sein werden. „Wir können jedenfalls nicht den Ausfall eines halben Jahres in einem Sommer oder Herbst reinholen“, sagt er.

Deutschland hat im Vergleich zu anderen Ländern durch das Instrument der Kurzarbeit einen schnellen Anstieg der Arbeitslosigkeit zwar verhindert: Bis Ende April waren mehr als zehn Millionen Menschen zur Kurzarbeit angemeldet. Doch zugleich verschob dies den Moment der Wahrheit, wie stark die Arbeitslosigkeit steigen wird, in die Zukunft. Und wie in jeder Krise trifft der Abschwung als Erstes die Tagelöhner, die Leiharbeiterinnen, die Beschäftigten mit befristeten Verträgen, die nicht mehr verlängert werden. Laut einer Umfrage des ifo-Instituts haben im Schnitt bereits 18 Prozent der Unternehmen in Deutschland Arbeitsplätze abgebaut: 58 Prozent der Betriebe in der Gastronomie, 50 Prozent der Hotels und 39 Prozent der Unternehmen der Automobilindustrie. Besonders betroffen: Baden-Württemberg und Bayern.

Der Konjunkturforscher Claus Michelsen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht derzeit davon ab, eine Prognose abzugeben, wie lange und wie hart die Rezession sein wird, die das Coronavirus in die globale Wirtschaft schlägt. Zu unsicher sind die Daten, zu ungewiss der weitere Verlauf der Pandemie. Und zu unterschiedlich die Aussichten je nach Wirtschaftssektor: Im Gastgewerbe etwa freuen sich jetzt viele über die Möglichkeit, nach zwei Monaten endlich wieder öffnen zu dürfen. Allerdings, so Michelsen, werden die Umsätze wohl niedriger ausfallen als vor Corona: wegen der Abstandsregeln oder weil viele zweifeln, ob sie wirklich auf engem, geschlossenem Raum stundenlang mit anderen tafeln wollen. Niedrigerer Umsatz heißt: Es ist wahrscheinlich, dass weniger Servicepersonal gebraucht wird. Kellner und Saalchefinnen droht die Arbeitslosigkeit. Was die ohnehin geringen Löhne noch weiter sinken lassen könnte. Das gilt wohl nicht nur im Gastgewerbe, sondern auch für andere Dienstleistungen wie den Tourismus und den Kultursektor: Hygieneauflagen behindern das Angebot, Angst vor Ansteckung hemmt die Nachfrage.

Anders, aber nicht besser sehen die Aussichten für die exportorientierte deutsche Industrie aus, von den Großbetrieben bis zu den mittelständischen Unternehmen, die ihre Produkte in die ganze Welt verkaufen. Es stehe jetzt schon fest, sagt Michelsen: Die deutsche Industrie muss sich auf einen massiven weltweiten Wirtschaftseinbruch einstellen, „der einerseits zu einem Einbruch in der Nachfrage nach langlebigen Konsumgütern wie Autos führt und andererseits zu einem Einbruch der Nachfrage nach Investitionsgütern“, also Anlagen und Maschinen. Deutschlands Exporte sind im März 2020 um knapp zwölf Prozent im Vergleich zu März 2019 gesunken – der stärkste Rückgang seit 1990.

Vor allem die Automobilindustrie steht dieser Tage im Fokus: Immerhin hängen von ihr, je nach Quelle, direkt und indirekt zwischen 1,7 und 2,9 Millionen Arbeitsplätze ab. Verständlich also, dass Politiker, Gewerkschafterinnen und Unternehmenslenker darüber streiten, wie diese gesichert werden können. Die Frage ist auch deshalb vertrackt, weil die Automobilindustrie nicht nur von Corona getroffen werde, so die Professorin für internationale Wirtschaft an der Hochschule Bremen, Mechthild Schrooten: Sie stehe ohnehin mitten in einem Strukturwandel, müsse sich mit den Auswirkungen des Klimawandels ebenso auseinandersetzen wie mit schwelenden Handelskonflikten, die sich in Zukunft eher noch verschärfen dürften. Da liegt es nahe, nach Hilfe vom Staat zu rufen. Nur: Was wünscht man sich da eigentlich genau? Finanzierung für ein Geschäftsmodell wie den Verbrennungsmotor, der sowieso nur noch einige wenige Jahre vor sich hat? Oder Hilfe, um den Strukturwandel zu unterstützen, ja zu beschleunigen?

Technik von vorgestern

Claus Michelsen buchstabiert es klar aus: „Struktureller Wandel ist, wenn man es ganz drastisch ausdrücken möchte, nichts anderes als Arbeitsplatzabbau und Firmenpleiten, um Platz und Kapazitäten zu schaffen für andere Geschäftsmodelle, in denen das Kapital und die Arbeitskräfte, die frei geworden sind, eingesetzt werden können.“ Schrooten gibt zu bedenken, dass wir uns die gigantischen Konjunkturpakete, die in den nächsten Monaten beschlossen werden sollen, nicht noch einmal leisten werden können, um uns etwa mit dem Klimaschutz zu beschäftigen. „Der Klimawandel wartet nicht, bis wieder die Kassen gefüllt sind.“ Deswegen sei es mehr als klug, Stabilisierungszahlungen an die Industrie mit Auflagen in puncto Klimaschutz zu verbinden und auf keinen Fall „eine Technik von vorgestern“ zu unterstützen.

Überrascht es, dass ein Gewerkschafter in die gleiche Kerbe schlägt? Noch dazu aus einem Bundesland, in dem ein Großteil der deutschen Autoindustrie und ihrer Zulieferer angesiedelt sind? Der Chef der IG Metall in Baden-Württemberg, Roman Zitzelsberger, sagt, er sei derzeit, „vorsichtig ausgedrückt, maximal unter Strom“. Was verständlich ist, da die globale Krise ungebremst auf seine Mitglieder zurollt. Aber die Lage sei sehr unterschiedlich, so Zitzelsberger: Die Maschinen- und Anlagenbauer seien große Amplituden bei der Konjunktur gewohnt: „Die können auch zwei Jahre überwintern und werden alles tun, um Beschäftigte und vor allem Fachkräfte zu halten, die sie vor der Krise händeringend gesucht haben.“ Bei den Automobilzulieferern aber sei die Lage schwieriger: Je weiter ein Zulieferer in der Wertschöpfungskette vom Endkunden entfernt ist und je einfacher die Arbeit ist, desto schwerer werde es sein, die Arbeitsplätze zu erhalten. Trotzdem, sagt Zitzelsberger, wäre es „das Dümmste, was wir machen könnten“, jetzt „den Fuß vom Gas nehmen“, was die Mobilitätswende betrifft. „Der Strukturwandel ist unaufhaltbar, der kommt. Das Risiko ist eher, dass er sich jetzt verlangsamt, weil die dafür notwendigen Investitionen zum Stopfen von gegenwärtigen Löchern verwendet werden.“

Schon vor Corona hat Zitzelsberger Sorgen bereitet, dass viele der Unternehmen, die im weiteren Sinne am Verbrennungsmotor hängen, gar keine Vorstellungen davon entwickelt hätten, was nach dem Benziner und nach dem Diesel kommen könne. Die Versäumnisse rächen sich jetzt doppelt, auch weil Zitzelsberger überzeugt ist, dass „insbesondere China die Situation nutzen wird, um noch stärker Innovationstreiber zu werden, in Sachen veränderter Mobilität und Digitalisierung“. So gesehen wären Staatshilfen für Produkte von gestern sogar kontraproduktiv.

Über das Morgen macht sich auch der Veranstaltungstechniker Jens Kruse derzeit viele Gedanken. Wird die Veranstaltungswelt nach Corona dieselbe wie früher sein, werden Firmen noch auf Messen werben, wenn sie jetzt womöglich merken, dass es auch ohne geht? Er überlegt intensiv, wie ein Geschäftsmodell aussehen könnte, mit dem man in solch einer Welt von morgen bestehen könnte.

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