Das Museum der Gegenwart

Ist-Analyse Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geht langsam zu Ende. Das „Jetzikon“ blickt schon mal zurück auf Ideen, Trends und Skurrilitäten des Alltags in den Nullerjahren

Leseprobe:

Überwachungskamera

BLÜTEZEIT: 2001

FUNKTION: Förderung von Voyeurismus und ­Exhibitionismus

FUNDORTE: Bahnhöfe, Hobbykeller von Wolfgang Schäuble

Der kürzeste Horrorfilm der Nullerjahre bestand nur aus einem einzigen Bild. Er zeigte einen Mann im blauen Hemd und mit schwarzer Hose beim Passieren der Sicherheitsschleuse des Flughafens von Portland. Über das Bild lief ein digitaler Code, der Uhrzeit und Datum angab: 11. September 2001, 5:45:13 Uhr. Das Foto konnte natürlich nur die Wirkung eines Thrillers entfalten, weil der Rest des Films im Kopf des Betrachters ablief, weil der Zuschauer wusste, dass der Protagonist Mohammed Atta hieß, anschließend den Flug 5930 nach Boston nahm, dort in den American-Airline-Flug 11 nach Los Angeles stieg, das Flugzeug zusammen mit vier Komplizen entführte und in den Nordturm des World Trade Center steuerte.

In den Tagen nach dem 11. September war das Standbild vom Flughafen Portland immer wieder in Zeitungen, im Internet und im Fernsehen zu sehen. Von der Instant-Ikone ging eine merkwürdige Faszination aus, eine Mischung aus Ohnmachts- und Allmachtsphantasien: Denn der Timecode zeigte nicht nur an, wann genau Atta die Kontrolleure der Flughafensicherheit überlistet hatte und ein paar Teppichmesser durch den Metalldetektor schmuggelte, sondern suggerierte dem Zuschauer auch, dass er den Film wie auf einem DVD-Player anhalten, die Stopptaste der Geschichte drücken und per Rewind-Funktion das schreckliche Geschehen ungeschehen machen könnte. Und obwohl das Foto das völlige Versagen der Überwachungstechnologie illustrierte – die Kamera sah schließlich nur stumm und untätig dabei zu, wie sich ein Terrorist auf seine tödliche Mission machte –, wurde es zu einem apodiktischen Argument für die Ausweitung der Videoüber­wachung...


./resolveuid/503beeb31da4575123892d1b87f1b890


© 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Aufgrund von Absprachen mit den Verlagen, die uns die Leseproben zur Verfügung stellen, können wir diese nur für eine begrenzte Zeit online stellen. Vielen Dank für Ihr Verständnis!


Buch der Woche: Das Jetzikon 50 Kultobjekte der Nullerjahre von Tobias Moorstedt, Jakob Schrenk
Rowohlt Taschenbuch Verlag
256 Seiten, 8,95

Tobias Moorstedtarbeitet als freier Journalist, u. a. für dieSüddeutsche Zeitung,spiegel.de, dietazundARD. Jakob Schrenk, geboren 1977, ist Redakteur beiNeon

Das Buch ist am 1. Dezember 2009 erschienen

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden