Das Neun-Euro-Ticket ist eine Zeitenwende für unsere Mobilität

Meinung Das 9-Euro-Ticket ist eine gute Idee – es wird nicht nur unser Leben, sondern auch unsere Städte verändern
Ausgabe 19/2022
Wer kein Auto hat, ist aufgeschmissen. Diese Erfahrung machten viele „Dorfkinder“ früher – und sie machen sie noch heute
Wer kein Auto hat, ist aufgeschmissen. Diese Erfahrung machten viele „Dorfkinder“ früher – und sie machen sie noch heute

Foto: Manngold/IMAGO

Es ist gerade nicht unbedingt die Zeit für Hymnen – dennoch will ich eine anstimmen: auf das 9-Euro-Ticket, das ab Juni drei Monate lang bundesweit für den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr gilt, wie Bundestag und Bundesrat beschlossen haben. Endlich wird ökologische und soziale Gerechtigkeit wahr. Wenn viele Menschen das Auto stehen lassen, weil öffentliche Verkehrsmittel unschlagbar günstig sind, entlastet das Städte und Klima.

Aber es geht um mehr: um Freiheit – besonders für diejenigen mit schmalem Geldbeutel. Kein Wunder, dass den Geschäftsleuten auf der Nobelinsel Sylt und ihren reichen Bewohnerinnen vor Schreck die Edel-Pommes mit Trüffel-Mayo aus der Hand gefallen sein dürften: Sie fürchten einen „Pöbel-Tourismus“, weil ihnen die Schönheit der Insel nicht mehr alleine vorbehalten sein wird. Mobilität bedeutet eben auch Selbstbestimmung und Emanzipation.

Damit kenne ich mich aus: Ich bin auf dem Land groß geworden, in einem kleinen bayerischen Dorf. Dreimal am Tag fuhr dort ein Bus. Wer kein Auto hatte, war aufgeschmissen. Als ich zum Studium in eine Großstadt zog, war ich überwältigt davon, dass mich Bus, Tram, U-Bahn überall hinbrachten, wohin ich wollte. Öffentlicher Nahverkehr ist für mich bis heute gleichbedeutend mit Unabhängigkeit.

Noch immer gibt es viele solcher Dörfer. Tatsächlich profitieren zunächst dort Menschen von der Vergünstigung, wo das Verkehrsnetz gut ausgebaut ist. 27 Millionen Menschen in Städten und Metropolregionen stehen 55 Millionen im ländlichen Raum gegenüber. Deswegen wird das 9-Euro-Ticket kritisiert, etwa vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Das Geld wäre besser angelegt, um die Verkehrsverhältnisse auf dem Land zu verbessern, heißt es. Aber warum denn entweder oder? Beides ist möglich!

Mehr als die Hälfte der Deutschen will das 9-Euro-Ticket kaufen

Zwar will die Bundesregierung erstmals mehr Geld in die Schienenwege investieren: 8,9 Milliarden Euro in diesem Jahr. Gleichzeitig fließen 8,3 Milliarden Euro in Bundesfernstraßen. Das schadet Klima, Luft und Böden, während Bus und Bahn jedes Jahr 15 Millionen Tonnen CO₂ einsparen. Laut einer Untersuchung der Uni Kassel kostet der Autoverkehr einer deutschen Großstadt uns alle dreimal so viel wie der ÖPNV. Denn Letzterer bringt Kommunen Einnahmen und schafft Arbeitsplätze: 930.000 Menschen arbeiten im öffentlichen Personennahverkehr, in der Automobilindustrie sind es knapp 790.000 Beschäftigte.

Wenn nun viele das 9-Euro-Ticket nutzen, ist das ein klarer Auftrag an die Politik, endlich eine Verkehrswende einzuleiten. Mehr als die Hälfte der Deutschen will das Ticket kaufen. Vermutlich werden es mehr: Nachdem die Stadt Wien die 365-Euro-Jahreskarte eingeführt hatte, verdoppelte sich die Zahl der verkauften Tickets binnen weniger Jahre.

Ähnliches passierte vor einigen Jahren dort, woher ich komme. Lange hatte ein Bürgerverein dafür gekämpft, dass die Bahnstrecke von der bayerischen Kleinstadt Weißenhorn ins baden-württembergische Ulm wieder in Betrieb genommen wird. Seit neun Jahren fährt auf dieser Strecke stündlich eine S-Bahn in beide Richtungen. Zusätzlich gibt es Busse in alle Dörfer rund um Weißenhorn – mehrmals am Tag, auch in meines! Die Bahnen sind voll, die Autos bleiben stehen, in das Renaissance-Städtchen kommen Touristen und es gibt dort jetzt hübsche Cafés und Restaurants. Alle profitieren. Gekostet hat dieses kleine Wunder zehn Millionen Euro. Hundertmal weniger als die umstrittene Isental-Autobahn in Bayern, die genauso lang ist wie die sanierte Bahnstrecke.

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