Mit Namen zitieren? Lieber nicht. Fotografieren? Nein, nein, auf gar keinen Fall. Die meisten Kursteilnehmer wollen nicht, dass die Nachbarn sie in der Zeitung sehen. Ein Stigma, es nicht zu können.
Christian Burmeister ist "ein bisschen neidisch". Er ist ein Lehrer, der neidisch ist auf seine Schüler, weil die gerade gelernt haben, was er längst kann.
Rosi Kampf gluckst vor Glück. Von einem Moment auf den anderen kann sie das, was 60 Jahre unmöglich schien - obwohl immer alle gesagt haben, dass es "ganz einfach" sei: Radfahren.
Eigentlich beginnt diese Geschichte fünf Tage früher, als sich sechs Frauen zur Ferienzeit auf einem Berliner Schulhof treffen, um bei Christian Burmeister aus Hamburg das Radfahren zu lernen. Doch danach sieht es anfangs gar nicht a
t es anfangs gar nicht aus. Auf einem Tretroller beginnen die Teilnehmerinnen ihr Training und steigen dann zunächst auf ein selbstgebasteltes Laufrad: Burmeister hat die Pedale abgeschraubt und die Sättel so tief gestellt, dass die Frauen - die meisten von ihnen zwischen 55 und 65 - mühelos mit den Füßen den Boden berühren können.Und jetzt, fünf Tage später, sind die Pedale wieder dran. Ans Radfahren denken die Teilnehmerinnen im Moment aber nicht. Das hat ihnen Burmeister gründlich abgewöhnt: "Wir Erwachsenen haben immer nur das gewünschte Ergebnis vor Augen", sagt er. "Aber nur, weil man etwas will und immer noch mehr will, lernt man eine Sache auch nicht schneller." Stattdessen betreibt der Sportwissenschaftler eine Art Politik der kleinen Schritte, gewissermaßen "durch die Hintertür" sollen die Frauen das Radeln lernen. Nur wenige Minuten dauern die kurzen Übungen auf dem Fahrrad, das im Moment als Roller herhalten muss: Ein Fuß auf dem Pedal, der andere schiebt an - entlang einer Linie auf dem Boden sollen die Teilnehmerinnen das Rad lenken. Reichlich umständlich sieht das aus. Wenn man Rad fahren kann.Das Ganze noch mal, nächste Übung: Anschieben und ein Stück rollen lassen. Rosi gibt Gas, rollt ein paar Meter - kurz vor der Mauer bremst sie mit den Füßen ab. "Man quält sich", sagt sie, dreht das Rad um und schnauft dabei kräftig aus. Anstrengend, erst mal Beine ausschütteln. Mit einem soll sie jetzt ihre Anfangsbuchstaben in die Luft malen - während der Fahrt. Was denn noch?"Hört ihr das andere Pedal?" fragt Burmeister nach fast anderthalb Stunden Übungs-Marathon. "Es schreit schon, dass ihr den freien Fuß darauf setzten sollt." Bedingungslos dem Ruf des Rades folgen - das sei eigentlich die ganze Kunst, jenseits der Herangehensweise des Lehrers: Das Rad hat immer Recht, meint Burmeister, jetzt ganz der Philosoph. Nur wer dem Fahrrad genau zuhöre und zuschaue, sich ihm unterordne, werde es auch beherrschen können.Der Pedal-Schrei wird offenbar lauter. Als nächstes sollen die Damen auf ihre Räder steigen und fahren. So richtig. Mit Treten. Zumindest ein paar Meter, am besten den Hang hinunter, das geht leichter. Burmeister sagt das so, als ob jetzt die nächste Übung dran wäre - nüchtern, fast gelangweilt wirkt er dabei, als wollte er sagen, dass jetzt das passiert, was immer passiert - nichts Besonderes eben. Die Frauen schauen sich gegenseitig an, als ob sie sagen wollten: "Was will der Mann?" Sie können doch gar nicht Rad fahren, hören absurde Tipps zum Aufsteigen: Mit einem Fuß anschieben, dann rechtzeitig den anderen Fuß dazunehmen - und treten. "Aber wie ihr anfahrt, spielt eigentlich keine Rolle, da gibt es viele Techniken." Rosi Kampf schiebt an, setzt sich auf den Sattel, nimmt den anderen Fuß dazu, tritt ins Pedal, noch mal und noch mal. Rosi fährt. Erst den Weg entlang, dann zurück, den kleinen Hang rauf und runter, vom Schulhof auf den Sportplatz, die Aschenbahn entlang. Die Frau, die eigentlich nicht Rad fahren kann, hört gar nicht mehr auf damit: "Wie im Rausch", sagt sie nur. "Wie im Rausch." Und weg.Nichts Besonderes. Burmeister bleibt kühl. Ob er stolz sei? Nein, sagt er, er wusste ja, was kommt. Denn eigentlich konnten die Frauen schon fahren, bevor sie gerade auf das Rad gestiegen sind. "Die Motorik hat in den letzten Tagen alle Infos bekommen, die man braucht, um Radfahren zu können." Wie ein Puzzle, Stück für Stück. Bewegungen, Körperhaltungen, Reaktionen des Rades darauf - Balance halten, das lernt man eben nicht, indem jemand anderes sagt: Radfahren? Kein Problem! Schau doch mal, wie ich das mache. Du schaffst das schon ... Vormachen, nachmachen, erklären, gut zureden - so funktioniert das nicht, meint Burmeister: "So hat noch nie jemand irgendetwas gelernt." Ein paar Lieblingssätze hat er, mit denen er immer wieder andere Lehrmethoden torpediert, etwa: "Gut zureden, bis es trotzdem klappt" und "Die meisten lernen nicht wegen des Skilehrers Skifahren, sondern trotzdem." Oder er erzählt vom Fahrlehrer, der dem Schüler sagt, er soll "die Kupplung langsamer kommen" lassen. "Aber wie?" fragt Burmeister, während seine Stimme immer lauter wird. Er glaubt die Antwort zu kennen: "Mit Übungen, die Inhalt haben, Gestalt haben." Auf einer Linie fahren. Auf dem Rad stehend rollen. Eine Hand vom Lenker nehmen. "Ganz konkret."Und dass Kinder leichter lernen? Quatsch, meint Burmeister und rechnet auch mit dieser Weisheit ab. Kinder würden nur anders an eine Sache herangehen: "Denen geht es ums Entwickeln und Entfalten - und eben nicht um Ergebnisse." Das sei ihr Vorteil gegenüber Erwachsenen, die sich - meist nur das Ziel im Blick - oft selbst blockierten. Den Großen helfe nur das Fahrrad selbst, reimt Burmeister: "Das Rad trennt Wille und Tat."Nur eben "ein bisschen neidisch" ist er: auf das Glücksgefühl, das die Neu-Radler jetzt gerade haben. Die meisten jedenfalls. Bei einer Frau klappt es nicht. Nur wenige Meter kommt sie vorwärts, muss wieder absteigen. Vielleicht liegt´s am Rad, meint Burmeister, den Sattel wird er höher stellen. Gut zureden, nein, das gibt es bei ihm nicht. "Ja, das ist im Moment vielleicht frustrierend", sagt er. "Aber spätestens in ein, zwei Tagen klappt es von selbst." Das ist keine Hoffnung, kein Aufmuntern. Der Mann weiß es."Das werde ich nie lernen", dachte sich auch Rosi Kampf, Jahrgang 1947. So selbstverständlich wie heute sei es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gewesen, Radfahren zu lernen. Viele Familien hatten nicht genug Geld, um ein Fahrrad zu kaufen. Und vielen Mädchen ging es wie Rosi: "Meine Eltern meinten wohl damals, dass Radfahren nichts für Mädchen ist." Vielleicht ist das ein Grund, warum zu den Kursen wenige Männer kommen, sie bilden nur ungefähr ein Zehntel der Teilnehmer. Burmeister kennt aber auch andere Gründe: "Männer dürfen sich so etwas nicht eingestehen."Viele Nichtradler fühlen sich stigmatisiert: "Nicht, weil sie es nicht können", meint Burmeister, "ich kann auch vieles nicht". Sondern weil ihnen über Jahrzehnte gesagt werde, dass es "ganz einfach" sei. Das sei es, was den Menschen weh tue: "Die Ignoranz der Mehrheit, die es eigentlich gut meine." Ihr Credo: Anfeuern, Augen zu und üben, immer wieder üben, bis es klappt. Rosis Fahr-Versuche mit ihrem Gatten Lutz scheiterten kläglich - und eigentlich ging´s auch ohne Rad ganz gut. "Bis vor einigen Jahren habe ich es nicht vermisst." Doch jetzt - im Vorruhestand - hat Rosi Zeit für den Radfahrkurs und Zeit zum Radeln. Vor allem in die Natur soll sie der Drahtesel bringen: "Ich hatte früher mal so einen Hometrainer - aber das war nur Frust. Ich brauche frische Luft." Damit künftig, etwa bei Radtouren und im Straßenverkehr, alles gut geht, lernen die Teilnehmer in der zweiten Woche das, was Burmeister "angemessenes Fahren" nennt. Manche, erzählt er, kommen aber auch nur, um sich oder anderen zu beweisen, dass auch sie Radfahren (lernen) können: "Die sind dann so lange dabei, bis sie es geschafft haben und fahren danach nie wieder." Doch aus welchen Gründen man auch komme, wichtig sei, dass man auf seine inneren Stimmen höre. "Wenn die Mehrheit im eigenen Parlament meint, dass man es nicht lernen soll, dann funktioniert es auch nicht." Meistens erkenne er das gleich am Anfang. Wenn nicht, zeige sich das oft in unangenehmer Weise: "Das sind die Leute, die sich verletzen."Burmeisters Berliner Kurse hatten vor ein paar Jahren noch 40 Teilnehmer und mehr. Und obwohl es inzwischen einige Nachahmer gibt, melden sich immer wieder neue Interessenten. Wie viele Menschen nicht Radfahren können, das weiß auch Burmeister nicht. In Deutschland gibt es Analphabeten, und es gibt Nichtschwimmer. Von einem Acyclisten, Nonpedaleur oder Anvelozipedisten hat man noch nichts gehört.www.radfahrkurse.de (neue Kurse in Berlin sind für August geplant)
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