Das popliterarische Zwölfeck

Platten In der letzten Ausgabe des Freitag kritisierte Johnny Haeusler die neue Form der Plattenkritik in der Zeitschrift "Spex". Eine Antwort von Chefredakteur Max Dax

Seit es den Begriff der 'Popkultur' gibt, gehörten Plattenkritiken zur Meinungsbildung, und nicht zuletzt die Spex erfand in den Achtzigern eine neue 'Sprache', ein neues 'Deutsch', in welchem seitdem hierzulande und längst auch in allen Feuilletons über Popmusik diskutiert wird. Dass Johnny Haeusler diese neue Sprache als "Akademikergewichse" und ihre Autoren als "frustrierte Germanistik-Studenten" bezeichnet und damit en passant hunderte Autoren in einen Topf wirft, ist seine persönliche Meinung, und die spricht Bände – aber darum soll es in dieser Replik nicht gehen.

Denn die Zeiten haben sich geändert, und mit ihnen die Paradigmen. Noch bis vor wenigen Jahren war die Musikzeitschrift an sich ein wesentlicher Filter, um ihren Lesern mitzuteilen, was es an neuen Veröffentlichungen und Trends auf der Welt so gab – und die Plattenkritik war das dafür gültige Format. Doch das Internet ist heute schneller, ob man es wahrhaben will oder nicht. Vor allem aber kann sich im Internet heute jeder schnell einen eigenen Eindruck verschaffen – nämlich, ob einem Musik 'gefällt' oder eben 'nicht gefällt'.

Doch wer sich Musik nur noch nach Geschmackskriterien nähert – oder sich wie Johnny Haeusler tanzende Autoren wünscht –, verpasst am Ende das Interessanteste: die Kontextualisierung und den Diskurs, der sich von relevanten Veröffentlichungen stets ableiten lässt. Die Plattenkritik in Spex ähnelt heute dem Format des 'literarischen Quartetts', nur dass sich wesentlich mehr an ihm beteiligen: Ein gutes Dutzend Autoren und Redakteure legen ihr gesammeltes diskursives Wissen über Musik und deren Begleitumstände auf den Tisch. Sie ergänzen sich, streiten und korrigieren sich – und in einigen Fällen entdecken mehrere Autoren zugleich eine neue Lieblingsplatte.

Vielstimmigkeit der Argumente

Mir will scheinen, als misstraue Johnny Haeusler der Urteilskraft der Leser. Es ist eine ganz und gar autarke Position, als Leser den teils gegeneinander ringenden Argumenten der Autoren zu folgen und die Größe, die Strahlkraft, das kontroverse Potenzial einer Veröffentlichung im Prisma der Positionen zu erkennen. Dass die Plattenbesprechungen in Spex seit der Einführung des neuen Textformats fast durchweg spürbar kritischer ausfallen als zuvor, hat zwei einfache Gründe: Zum einen kann sich kein Autor mehr auf 'seine Lieblingsband' stürzen, zu der er ein gewachsenes, gehegtes und von übermäßigem Respekt geprägtes Verhältnis pflegt – leider war dies ein Phänomen, das aus vielen Kritiken in allen Zeitschriften und Feuilletons herauszulesen war.

Zum anderen treten sprachliche Eitelkeiten und bloße Geschmacksäußerungen in dem neuen Format deutlich in den Hintergrund – so deutlich, dass sich der Leser nach der Lektüre der Argumente nicht selten auf seine Urteilskraft verlassen muss. Aber warum auch nicht? Nichts spricht gegen das eigene Urteil, wenn man eine Grundlage dafür hat.

Was bleibt, ist eine Vielstimmigkeit der Argumente, nicht der Meinungen. Das 'Pop Briefing', wie wir bei Spex den Neustart der Plattenkritik jetzt nennen, lädt den Leser mehr als je zuvor zur Beschäftigung mit Musik ein, von der er oder sie zuvor noch gar nichts gelesen, geschweige denn gehört hatte. Wir Autoren – alle Autoren, nicht nur die der Spex – nähern uns der Musik mit Leidenschaft, weshalb wir immer wieder auch darum kämpfen, tollen Newcomern oder großartigen unbekannten Künstlern Raum zu verschaffen. Und wir freuen uns stets, wenn unsere Bemühungen auch zur Kenntnis genommen werden. Die Chancen hierfür stehen seit der Abschaffung der liebgewonnenen, aber eben auch überholten Plattenkritik, deutlich höher als zuvor.

Max Dax (geb. 1969) ist seit 2007 Chefredakteur der . Er schreibt auch für den "Freitag", zuletzt hat er für uns ein Interview mit Claude Lanzmann geführt.

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