Zu Beginn der 80er Jahre zählte für die junge Westberliner Boheme die Erfindung eines Künstlernamens zum Bestandteil der Identitätskonstruktion. Der Künstlername stand für Individualität und Pop: Jochen Arbeit klingt knackiger als Joachim Stezelczyk und Gudrun Gut besser als Gudrun Bredemann. Auch ich beugte mich dem Diktat jener Zeit, signierte punkig mit Wolf Müll. Die Comicstrips, die ich 1980 bei Egmont Fassbinder, einem Cousin des Filmemachers, in dessen Rosa-Winkel-Verlag veröffentlichte, waren indes ein Flop. So entschloss ich mich, meinen langweiligen Tauf- und Familiennamen so lange zu benutzen, bis er für einen Künstlernamen gehalten werden würde.
Nun ist die Zeit gekommen, in der das Gewöhnliche, Normale, ja das Unspektakuläre gefragt ist. Warum? Ganz einfach: Der seit den 80ern in Gang geratene Prozess der Individualisierung ist abgeschlossen. Was sich früher nur ein paar Punks, Chaoten und Anarchisten erlaubten, all das ist heute total normal. Der Kassierer im Supermarkt hat knallgrün gefärbte Haare, die ganzkörpertätowierte Busfahrerin trägt Piercings, der Präsident des Bunds der Vertriebenen, CSU-MdB Bernd Fabritius, lebt zusammen mit seinem Mann, und im Bundesvorstand der AfD sitzt mit Alice Weidel eine lesbische Regenbogenfamilienmutter. Inzwischen sind alle Menschen bis in den letzten Winkel selbstverwirklicht. Claudia Roth wirkt daher oft wie ein nerviges Fossil aus Selbstfindungszeiten, wenn sie in schrillen Outfits dauerrotierend Talk-und Rateshows, Bundeswehr- und Schlagerparaden einschließlich Wagners Festspielen in Bayreuth heimsucht.
Im Chaos der Individualitäten gewinnt jetzt das Unscheinbare, Unspektakuläre und Unauffällige neue Qualität. Der 1964 in Westberlin geborene Michael Müller gilt als einer jener Politiker, deren Anwesenheit niemanden aufregt und deren Abwesenheit keiner bemerkt. Er fällt nicht auf. Seit Dezember 2014 ist die graue Maus sogar Regierender Bürgermeister von Berlin, was niemanden zu stören scheint.
Eine letzte Kante blieb: Michael Müller steht für ein strenges Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst. Deshalb hat die Werbeagentur Butter nun ein geniales Wahlkampfplakat für Kopftuchgegner und -freunde gleichermaßen entwickelt. Das SPD-Logo fehlt, nur „Müller, Berlin“ steht darauf. Der größte Teil des Plakats wird von der Rückansicht eines eleganten, lachsrosafarbenen Kopftuchs ausgefüllt. Das Gesicht der Trägerin bleibt unsichtbar. Während die Unbekannte auf einer Rolltreppe hinunter in einen U-Bahn-Schacht fährt, kommt ihr auf der gegenüberliegenden Rolltreppe nach oben ein unscharf-verschwommener Michael Müller in weißem Hemd, blauem Schlips und lässig über die Schultern geworfener Jacke entgegen. Sein neugierig offener Blick sucht den Augenkontakt zur fremden, rätselhaften Frau. Durch den Blick des farblosen Mannes manifestiert sich ihre Schönheit. Die Melange aus Exotismus, Orientalismus und wohlmeinendem Sexismus soll die Weltoffenheit Müllers vermitteln. Das raffinierte Wahlplakat macht die Ausschlüsse, Widersprüche und Hierarchien sichtbar, die es visuell gleichzeitig behauptet, überwunden zu haben. Gelingt der Bluff, oder wird dieses Remake von Robert Musils Roman Mann ohne Eigenschaften unter umgekehrten Vorzeichen zum Projekt 18 Prozent der SPD?
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