Das Quäntchen Glück

Im Gespräch Der polnische Politiker Andrzej Szejna, Zweiter Vorsitzender des Rechtsausschusses im Europäischen Parlament, will die Verfassung ohne Wenn und Aber

FREITAG: Es gibt die erklärte Absicht des Europäischen Rates, den durch die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden kriselnden EU-Verfassungsprozess zu reanimieren. Halten Sie das für aussichtsreich?
ANDRZEJ SZEJNA: Ja, denn der Verfassungsentwurf ist der beste Kompromiss, auf den sich die 25 EU-Staaten einigen konnten. Durchgefallen ist er nicht, weil er den Bürgern Europas missfallen hätte, sondern ihm das entscheidende Quäntchen Glück fehlte. Weil Frankreich und die Niederlande zum Zeitpunkt der Referenden 2005 gravierende innenpolitische Probleme hatten, musste Europa als Sündenbock herhalten.

Halten Sie Textkorrekturen für sinnvoll?
Persönlich würde ich überhaupt nichts ändern, denn ich bin überzeugt, einen besseren Vertragstext werden wir nicht bekommen. Bei allem Respekt für die nationale Souveränität einzelner Mitgliedsstaaten - es sollte nicht der Fall eintreten, dass eine Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwingt. Trotz der Abstimmungsniederlagen in Frankreich und den Niederlanden hat eine Mehrheit der EU-Bürger bei Referenden oder mit der Stimme ihrer Abgeordneten in den Parlamenten klar gesagt: Wir wollen diese Verfassung. Achten wir doch diese Mehrheitsmeinung!

Von einer wirklichen europäischen Mehrheitsmeinung könnte man doch nur dann sprechen, würde in allen EU-Staaten per Referendum über die Verfassung entschieden.
Das wäre sicher der demokratischste Weg. Ich fürchte allerdings, er ist nicht sehr praktikabel. Generell sollte die EU aber viel stärker dazu übergehen, das demokratische Instrument des Referendums einzusetzen. Nur darf es nicht so sein, dass eine Minderheit die Mehrheit blockiert. Ich wünsche mir eine EU, in der jede Stimme gleich viel zählt. Haben 60 Prozent der Europäer für die Verfassung gestimmt, bekommen wir sie eben die Verfassung, unabhängig davon, aus welchen Ländern die Stimmen kommen. Dann können einzelne Länder nicht mehr blockieren.

Mit dieser Auffassung gießen Sie Wasser auf die Mühlen der Europaskepsis ...
Ich habe damit ja nur eine Zielvorstellung formuliert. Derzeit wäre jede Entscheidung, die darauf basiert, andere zu überstimmen, sicher ein großer Fehler und von Nachteil für die Union. Ich halte trotzdem daran fest: Die Länder, von denen bisher die Verfassung abgelehnt wurde, sollten noch einmal ihre Einwände sachlich begründen.

Entscheidet sich für Sie mit der Verfassung eine Kardinalfrage der europäischen Integration - das Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit oder zum neoliberalen Wettbewerbsstaat?
Ich glaube, dass die Verfassung in beiden Richtungen genügend Spielraum lässt. Es gibt einerseits keinen anderen vergleichbar wichtigen europäischen Rechtsakt, in dem so ausgiebig vom Kampf gegen soziale Ausgrenzung die Rede ist. Andererseits blockiert die Verfassung den wirtschaftlichen Aufschwung nicht, indem sie an irgendwelchen, irgendwann wohlerworbenen sozialen Rechten festhält, die einst Sinn hatten, heute aber ein Hindernis darstellen.

Das Verlangen vieler Verfassungskritiker, soziale Rechte wie etwa das Recht auf Arbeit oder das Recht auf Wohnung in der Verfassung zu verankern, unterstützen Sie demnach nicht?
Wir hätten in den Entwurf der EU-Verfassung natürlich diese Rechte hineinschreiben können. Aber schauen Sie sich doch die Verfassung Polens an, da ist das alles festgehalten. Wir haben trotzdem Arbeitslosigkeit, zu teure Wohnungen, und fast zwei Drittel der Studenten müssen für ihre Studienplätze zahlen. Außerdem könnte die EU bei dem geringen Anteil des europäischen Bruttoinlandsprodukts, das ihr als Haushalt zur Verfügung steht, ohnehin nichts tun, um derart weitgehende Sozialrechte zu garantieren.

Ist das ein Plädoyer für einen größeren EU-Haushalt und ein stärkeres Budgetrecht des Europäischen Parlaments?
Auf jeden Fall sollte der Einfluss des Parlaments auf die finanziellen Entscheidungen der EU-Kommission größer werden. Heute ist das Budget geteilt in obligatorische und nicht obligatorische Ausgaben - das heißt, die Möglichkeiten des Parlaments, am Budget mitzuwirken sind beschränkt. Bei all diesen Debatten darf ein ganz wesentlicher Punkt nicht außer Acht gelassen werden: Wir reden heute darüber, in welcher Form das EU-Parlament an den Beschlüssen der Union beteiligt werden soll. Entscheidend ist aber, dass es überhaupt beteiligt wird. Heute werden gerade einmal 30 Prozent der EU-Entscheidungen unter Berücksichtigung dieses Parlaments getroffen. Mit dem Rest ist es nicht im Geringsten befasst.

Sollte dieses Parlament auch Kontrollrechte gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB) haben, um über eine aktive Finanzpolitik konjunkturpolitisch wirksam zu werden?
Da wäre ich vorsichtig. Auf jeden Fall sollte das Parlament Einfluss auf die Auswahl der in der EZB handelnden Schlüsselpersonen haben. Und ich bin auch dafür, dass man der EZB nicht nur die Aufgabe überträgt, für eine stabile Währung zu sorgen, sondern dass sie auch Verantwortung dafür trägt, die Konjunktur zu stimulieren - doch jede direkte politische Einflussnahme lehne ich strikt ab.

Das Gespräch führte Piotr Dobrowolski

Andrzej Szejna gehört dem Vorstand der Allianz der Demokratischen Linken (SLD) an.


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