Scholle Vom liberalen Jetset wird er belächelt, in seinem Verein passt er sich an. Dafür lebt der Kleingärtner viel robuster und krisenfester als andere
Als ich vor vielen Jahren nach Chemnitz zog, waren es zwei Dinge, die mich an den in dieser Stadt überreichlich vorhandenen Kleingärten faszinierten. Einmal die schlechterdings luxuriöse Lage der Sparten. Die Grundstücke befanden sich nicht in Randlage, sie nahmen keine verwaiste und periphere Position ein, wie zum Beispiel in Berlin am Rand des Tempelhofer Flugfelds oder neben den Eisenbahngleisen, die die Westhafenbrücke unterqueren. In Chemnitz sind die Kleingärten dort gelegen, wo anderswo die Villen stehen. Auf den Hügeln, mit einem großzügigen Blick über die ja ohnehin recht grüne Stadt. Das ist kein liegen gebliebenes Bauland, das sich ohnehin schlecht nutzen ließ und deswegen an die Pächter weitergegeben wurde, es sin
sind die Filetstücke.Und dann waren es die Namen, die mich faszinierten, wenn ich mit dem Fahrrad durch die etwas verschlungen angelegte Stadt fuhr und nach Abkürzungen suchte: Namen wie „Erdenglück“, „Waldfrieden“, „Frühauf“ oder sogar „Empor zum Licht“. Ein unglaubliches Glücksversprechen steckt in ihnen. Dabei geschieht hier so wenig: Man mäht den Rasen, kümmert sich um die Nutzflächen, legt abends etwas auf den Grill und genießt das Leben an der frischen Luft. Das ist bescheiden und ein wenig spießig – woher das utopische Pathos, das aus so vielen Vereinsnamen spricht?Historisch gesehen ist es das Glücksversprechen der „freien Scholle“, also der Verbindung von Stadt und Land, die die Städtebewohner nicht in neue Abhängigkeit vom Boden setzt, sondern den quasibäuerlichen Kleinstbetrieb zu einer Erwerbsquelle neben der eigentlichen Lohnarbeit machte. Denn die Pächter der ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich von Leipzig ausbreitenden Kleingartenkolonien waren vor allem Arbeiter. Sie, die in überfüllten Mietskasernen lebten und keinen eigenen Garten besaßen, bekamen auf diese Weise die Möglichkeit, die Lebensmittelversorgung ein wenig aufzustocken und sich im Freien zu erholen.Nordlicht und FrohsinnGeschichte ist, wie Thomas Mann schrieb, immer ein „Geschicht“: ein In- und Durcheinander verschiedenster Stadien der kulturellen Entwicklung, die sich in unterschiedlicher Tiefe unserer Erfahrung abgelagert haben. Es gibt den Bauern, den Jäger, den Sammler in mir. In den Städten gilt das zumal. Denn urban ist nicht gleich modern, es heißt vielmehr, dass verschiedene Zeit- und Lebensformen nebeneinander bestehen können.Spaziert man etwa eine Weile am Berliner Nordgraben entlang (er verbindet die Panke in Blankenburg mit dem Tegeler Hafen), so begegnet es einem immer wieder. In Kolonien wie „Nordlicht“, „Frohsinn“ oder „Steinberg e. V.“, in der „Garten- und Siedlergemeinschaft Einigkeit“ hat man nicht mehr das Gefühl, sich in Berlin zu befinden; weit, weit weg brummt die Großstadt mit all ihren Anforderungen und Serviceleistungen vor sich hin. Hier parken die Autos schief auf den ungeteerten Wegen, man bestellt seinen Garten und quatscht mit den Nachbarn.In Form der Kleingärten werden ältere gesellschaftliche Lebensformen in die städtische Moderne eingelagert. Eine Gartensparte ist immer so etwas wie ein kleines gallisches Dorf, partiell abgekoppelt vom gesellschaftlichen Ganzen. An die Stelle der Gesetze tritt die Vereinssatzung, der man sich zu unterwerfen hat. Wer sich daran nicht hält, muss über kurz oder lang den Verein verlassen. Überhaupt wird Individualität nicht übermäßig großgeschrieben. Es ist gesetzlich festgelegt, dass 30 Prozent der Grundstücksfläche zu nutzen sind. Das muss nicht Obst oder Gemüse sein: Blumen reichen. Aber man kann auf seinem Grundstück nicht einfach machen, was man will. Und auch sonst geht es einem als Gartenbesitzer wohl desto besser, je weniger die eigenen Bedürfnisse und das eigene Gestaltungsbedürfnis sich von dem der anderen unterscheiden.Krisenfester als andereNatürlich gibt es große Unterschiede zwischen den Vereinen. Gerade in den Metropolen, in denen die Nachfrage nach Kleingärten in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen ist und die Sehnsucht nach dem Land in der Stadt eine neue Klientel gefunden hat, gibt es mehr Spielraum. Dennoch ist die Sparte eine starke Form der Gemeinschaftsbildung. Die Lauben sind klein und luftig, viel Privatleben gibt es da nicht. Man blickt in Nachbars Garten, so wie er in den eigenen. Ein Minimum an Anpassung ist erwünscht.Ältere Lebensformen sind meist weniger komfortabel, dafür aber robuster. Deswegen lebt man als Kleingartenbesitzer krisenfester als die anderen. Im Herbst merkt man das am stärksten. Es ist erstaunlich, was so ein einziger Garten alles abwirft. Wir haben jetzt eine gewaltige Apfelernte, und viele Bekannte, die mit dem Apfelmuskochen nicht mehr nachkamen, haben einen Großteil der Ernte in die Mosterei gegeben und sind bis zum nächsten Herbst versorgt. Und wenn man es darauf anlegt und sich nicht bloß auf Obstbäume und ein paar Sträucher beschränkt, hat man noch viel mehr davon.Nach dem Krieg zogen viele aus den zerbombten Häusern in die Kleingärten und fristeten dort, zum Teil für Jahrzehnte, eine primitiv-beschauliche Existenz, die mit dem Leben in der Großstadt kaum etwas zu tun hatte. Ja, da man bis 1983 (im Osten bis 1990) die Lauben sehr viel größer bauen konnte, verwandelten viele sie in ein regelrechtes Eigenheim mit Kleinstgarten drumherum. In der Kolonie an der Bornholmer Brücke kann man noch einige dieser skurrilen Zwergvillen bewundern.LächerlichkeitUnd schließlich: Man muss sich fragen, ob nicht gerade diese strukturelle Archaik, gerade diese beständige und zweifellos etwas spießige Krisenfestigkeit den Kleingarten zum Vertreter eines richtigeren Lebens macht. Das klassische Bild der Kleingärtner ist ja ein wenig mit Lächerlichkeit behaftet.Über der Laube weht die Fußballfahne, man sitzt rum, den Kasten Bier neben sich, und grillt, die Frau holt die Äpfel von den Bäumen, die Kinder spielen Fußball oder liegen im Planschbecken. Man isst gern Fleisch, und die Gesinnung ist eher reaktionär. Und auch wenn es viele Ausnahmen von dieser patriarchalen Idylle gibt: Ganz falsch sind diese Vorurteile eben nicht.Aber der Spott darüber verkennt den entscheidenden Punkt: All diejenigen, die ihren Sommer im Kleingarten verbringen, im Herbst ein wenig ernten und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, leben unendlich viel richtiger, vernünftiger als der liberale Jetset. Verglichen mit dem ökologischen Fußabdruck eines grünen Bundestagsabgeordneten dürfte der eines reaktionären Kleingarten-Spießers, der im Sommer zu Hause bleibt, sich Gartenbräune zulegt, die Kinder ab und an ins Freibad schickt und bei der nächsten Wahl, wenn überhaupt, die AfD wählt, winzig sein. Dabei kann man dem Grünen, der von Termin zu Termin fliegt, um die Welt zu retten, noch nicht einmal Doppelmoral vorwerfen.Was ihn treibt und was ihn gleichzeitig alles richtig und falsch machen lässt, ist die Doppelmoral eines Systems, in dem die einen tun, was die anderen fordern, und zum Dank dafür von der kulturell tonangebenden Schicht belächelt werden. Adorno und Horkheimer nannten das „Schuldzusammenhang“. Von ihm ist niemand frei. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber zweifellos ein richtigeres.Vereinte KraftVielleicht behalten all diejenigen, die in der „Höhenluft“, der „Vereinten Kraft“ oder im „Himmelreich“ ihr kleiner portioniertes Leben leben, am Ende doch recht. Denn was ist, wenn die nächsten Krisen und Kriege auf uns zukommen? Europa ist so labil geworden, dass man keine politische Prognose für die nächsten 50, 60 Jahre abgeben möchte. Es kann sein, dass das Zeitalter der Bündnisse und eines leidlichen inneren Friedens zu Ende geht. Die Gesellschaften Europas zersetzen sich, und Mächte wie Russland und Amerika tun manches, um die Zerfallstendenzen zu verstärken. Hinzu kommt die klimatische Entwicklung, deren Konsequenzen wir gar nicht überschauen.In den Städten ist dann vielleicht nicht mehr gut wohnen. Dann treten ältere Formen des Wirtschaftens und des Zusammenlebens an die Oberfläche und werden reaktiviert. Dann schlägt vielleicht wieder einmal die Stunde des Kleingartens. Wohl dem, der dann einen hat.Placeholder authorbio-1
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