Das Risiko sind wir

Im Gespräch Die Geophysikerin Katharina Thywissen über Frühwarnsysteme, Flutmanagement und eine anwachsende Anfälligkeit des Menschen für Naturkatastrophen

Das Institut für Umwelt und Menschliche Sicherheit, eine Einrichtung der UN-University in Bonn, wird den Aufbau eines Frühwarnsystems für Tsunamis in Südasien unterstützen. Aufgabe des Instituts ist es, in den betroffenen Ländern nationale und lokale Kapazitäten aufzubauen, in die das Frühwarnsystem eingebettet werden kann. Katharina Thywissen arbeitet als wissenschaftliche Beraterin am Institut.

FREITAG: Das UN-Institut für Umwelt und Menschliche Sicherheit hat sich zur Aufgabe gemacht, Aussagen über die gegenwärtige menschliche Vulnerabilität gegenüber Naturgefahren treffen zu können. Was ist unter Vulnerabilität zu verstehen?
KATHARINA THYWISSEN: Vulnerabilität bedeutet die Anfälligkeit einer Gesellschaft gegenüber Naturkatastrophen. Diese ist extrem vielschichtig. In den vergangenen Jahren ist deutlich geworden, dass die bisherigen vorwiegend naturwissenschaftlichen Ansätze nicht ausreichen, die Ausmaße von Naturkatastrophen zu reduzieren. Hier findet ein Paradigmenwechsel statt. Naturwissenschaften wie die Seismologie, die Hydrologie, die Vulkanologie spielen bei Flutkatastrophen nicht mehr die Hauptrolle. Zunehmend werden die so genannten weicheren, schwer quantifizierbaren Wissenschaften in Vulnerabilitätsanalysen einbezogen. Uns geht es nun darum, die Verbindung zwischen diesen einzelnen wissenschaftlichen Elementen und den sozioökonomischen Aspekten herzustellen.

Warum wurde die Gefahr eines Tsunamis in Südasien unterschätzt?
Das liegt vermutlich daran, dass Tsunamis im Bereich des Indik nicht sehr häufig vorkommen. Im Indischen Ozean gab es in den letzten 200 Jahren sieben Tsunamis, von denen wir Kenntnis bekommen haben. Dagegen findet im Pazifik etwa alle zehn Jahre ein Tsunami statt. Das heißt, dass das Risikobewusstsein im Indischen Ozean geringer war als im Pazifik. Dennoch wurde in der Vergangenheit ein Warnsystem für den Indischen Ozean angeregt, aus finanziellen und bürokratischen Gründen jedoch nicht in die Tat umgesetzt.

Das heißt, das Manko eines Frühwarnsystems war hinlänglich bekannt?
Ja. Die indonesische Regierung hatte bereits 1992 bemerkt, dass ihr Warnsystem nicht ausreichend ist. Schon damals hatte sie sich um finanzielle Unterstützung bemüht. Diese Anfrage aber ist in der Bürokratie verloren gegangen. Anschließend fand in Indonesien eine sehr turbulente politische Entwicklung statt, die dieses Problem überschattete.

Die Regionen in Südasien sind von verschiedenen politischen, sozialen und kulturellen Konflikten geprägt. Inwieweit werden diese Konflikte beim Aufbau eines Frühwarnsystems berücksichtigt?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt, denn Frühwarnsysteme können durch politische oder andere Konflikte außer Kraft gesetzt werden. Im Moment würde ich das mit einem gewissen Optimismus angehen. Wenn sich die Regierungen jetzt zu einem gemeinsamen Frühwarnsystem zusammenfinden und es auch einfordern, dann sind im Prinzip die Voraussetzungen auch über politische Schwierigkeiten hinweg geschaffen. Das sehen wir beispielsweise in Pakistan und Indien, die in einer konfliktreichen Beziehung zueinander stehen. Dort gibt es im Bereich des Flutmanagements jedoch eine Kooperation, in deren Rahmen Indien Flut- und Überschwemmungsinformationen liefert, die für Pakistan essentiell sind. Diese Kooperation funktionierte auch, als Indien und Pakistan Krieg gegeneinander führten. Generell wecken Katastrophen eher Solidarität als Antagonismus. Wichtig sind die politische Ebene und die Gesetzgebung. Sie schaffen die Basis, auf der ein solches System funktionieren kann. Das kann ein langwieriger Prozess sein, aber ohne diesen ist die Nachhaltigkeit des Frühwarnsystems fraglich.

Welche Rolle spielt denn lokales Wissen bei einem Frühwarnsystem?
Frühwarnsysteme müssen an die ethnisch-kulturellen Gegebenheiten einer Region angepasst sein. Dabei spielt die Stellung der Geschlechter in der jeweiligen Gesellschaft genauso eine entscheidende Rolle wie die Frage nach dem richtigen Medium, mit dem ich eine Warnung am besten verbreite. Sie können in einem Gebiet mit überwiegend Analphabeten keine Flugzettel über Hubschrauber austeilen, wie es bei einer Sturm- und Flutwarnung im asiatischen Raum geschehen ist. In Bangladesch wurden im Landesinneren beispielsweise auch Schutzzonen gegen Überschwemmungen angelegt. Bau, Funktion und Wirkung dieser Anlagen wurden anfänglich aber weitegehend nur mit dem männlichen Teil der Bevölkerung diskutiert. Die Frequentierung dieser Schutzzonen stieg drastisch an, als man auch die Frauen an der Planung beteiligte.

Wie hat man sich die Erforschung von Risiken oder möglichen Katastrophen vorzustellen?
Katastrophen- und Risikoforschungen sind generell ein sehr komplexes Feld, sie bestehen aus vielen unterschiedlichen Disziplinen und Sektoren. Zunächst wird die Naturgefahr selbst erforscht, das heißt wo und wie häufig treten Naturphänomene auf. Weiterhin fragen wir, wo die Gesellschaften Angriffsflächen für Naturgefahren bieten. Es sind die Kapazitäten zu eruieren, die einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, um mit bedrohlichen Ereignissen fertig zu werden. Und schließlich geht es um die besondere Lage einer Region. In einem dünn besiedelten Gebiet ist das Ausmaß natürlich geringer als in einer Großstadt, die sich direkt im Angriffsbereich einer Naturgefahr befindet.

Wie gehen Sie als Forscherin vor, welche Daten sind Ihnen wichtig?
Zunächst schaue ich mir an, wo eine Tsunami-Gefahr besteht, beispielsweise in allen seismisch aktiven marinen Regionen wie dem cirum-pazifischen Raum und Hawaii, aber auch im Mittelmeer. Historische Aufzeichnungen können dann Aufschluss über vergangene Tsunami-Ereignisse geben. Mit Hilfe von geologischen Anhaltspunkten im Gelände können auch solche Ereignisse berücksichtigt werden, die nicht mehr Teil unserer historischen Zeitrechnung sind. Daraus lässt sich eine Frequenz herleiten, die angibt, wie häufig ein Ereignis in einer bestimmten Zeitspanne vorkommt. Dann schauen wir uns an, welche Regionen von diesen Naturereignissen erfasst werden, um so die Gebiete, die besonders Tsunami-gefährdet sind, abzugrenzen. Als nächsten Schritt würde ich untersuchen, welche Bevölkerung in den Gebieten lebt, wie viele Städte es gibt oder wie das vorhandene Land genutzt wird.

Für den Fall eines Tsunami könnten wir also sehen, welche Folgen für das betroffene Gebiet erwartet werden müssen. Auf diese Weise haben wir das Ausmaß der Naturgefahr abgesteckt. In einem weiteren Schritt erforschen wir, wie die Gesellschaften, die in diesem Gebiet leben, auf solch eine Gefahr vorbereitet sind. Gibt es beispielsweise Warnsysteme, gibt es Schutzsysteme baulicher Art oder lokales Wissen, das mit einem bestimmten Naturereignis umgehen kann. Es reicht also nicht aus, nur zu wissen, welche Gefahr vorliegt und wie diese aussieht, sondern es ist ebenso entscheidend zu erfahren, was sich im Gefahrenbereich befindet und wie anfällig die Menschen und Städte in diesem Gefahrenbereich sind.

Verstärkt wurde die verheerende Wirkung der Flutwelle, weil natürliche Wellenbrecher wie Mangrovenwälder abgeholzt wurden. Werden solche natürlichen Schutzräume im Rahmen eines Frühwarnsystems wieder reaktiviert werden?
Im Prinzip gehört das zur Raumplanung. Das ist eines der stärksten Mittel der Risikominimierung. Wo lässt man eine Bebauung zu, welche Naturnutzung ist möglich? Das sehen wir bei allen Naturgefahren, nicht nur bei Tsunamis, sondern auch bei Flut- oder Erdbebenereignissen. Die Nutzung, die Bebauung und die Einschränkung der Umweltbelastungen müssen auf jeden Fall reguliert werden.

Überträgt man Ihre Analyse auf die Lage in Südasien, kann man zu dem Schluss kommen, dass bis auf einzelne Gebiete, in denen lokales Wissen im Umgang mit Naturereignissen genutzt werden konnte, alle möglichen Vorkehrungen versagt haben beziehungsweise solche gar nicht vorhanden waren.
Wir können wirklich nicht vom Gegenteil sprechen. In den sich im Moment sehr stark entwickelnden Ländern Asiens besteht ein großes Problem darin, dass die Landnutzung und die Kontrolle von Ressourcen sehr schwierig sind. In Städten mit hohem Bevölkerungsdruck und unkontrollierten Siedlungen sind solche Maßnahmen schwer aufrecht zu erhalten.

Das heißt, dass das Ausmaß der Katastrophe in Südasien letztlich auch Ausdruck der gegenwärtigen sozialen und ökonomischen Entwicklungen dieser Länder ist?
Man kann sagen, dass die Entwicklung sowohl in den Ländern Südasiens als auch in anderen Teilen der Welt generell dazu führt, Risiken für den Menschen zu erhöhen. Denn immer mehr Menschen ziehen in die Städte und in exponierte Gebiete. Im Fall von Tsunamis werden also nicht die Naturgefahren größer, sondern die Anzahl und Anfälligkeit der Menschen in diesen gefährdeten Gebieten haben sich erhöht. Richtiger ist es demnach, von einer erhöhten Anfälligkeit der Menschen zu sprechen, die durch ihre gegenwärtige Siedlungs-, Bau- und Wirtschaftsweise hervorgerufen wird.

Das Gespräch führte Stephan Gabriel Haufe


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