Das Skalpell der Olikratur

Wahlfieber in der Ukraine Der Dominostein für ein demokratisches Haus Europa?

Es scheint vollbracht. Die Genugtuung ist nicht zu überhören. Präsident Kutschma erkennt das Urteil des Obersten Gerichtes in Kiew an, die Stichwahl zu wiederholen, die OSZE will aus diesem Anlass bis zu 2.000 Wahlbeobachter schicken, und Wladimir Putin rügt den Westen für "koloniale Methoden der Einmischung", erklärt sich aber bereit, den Ausgang eines erneuten Votums anzuerkennen.

Alles gut also? Wieder ein Dominosteinchen mehr für ein demokratisches Haus Europa? Mitnichten, fürchte ich. Schauen wir genauer hin: Zunächst einmal hat das Oberste Gericht in seinem Beschluss die Wahlkommission dafür kritisiert, dass sie die Ergebnisse schon bekannt gab, als noch Klagen anhängig waren, dass "ein und derselbe Bürger mehr als einmal in die Listen aufgenommen wurde", dass der Umgang mit den Wahlberechtigungsscheinen die "Anforderungen verletzte", dass der "Wahlkampf in den Medien ohne Kontrolle über einen gleichmäßigen Zugang" stattfand und das "Verbot der Einmischung von Angehörigen der Exekutive und von Beamten örtlicher Behörden in den Wahlkampf" nicht erfüllt worden sei. Unter diesen Umständen kamen die Richter nicht etwa zu dem Schluss, Juschtschenko sei betrogen worden und müsse als Wahlsieger anerkannt werden, sondern erklärten, es sei "unmöglich, den wirklichen Wählerwillen festzustellen". Daher solle die Wahl wiederholt werden.

Wie sollte nun das Wahlgesetz nach Meinung der Opposition revidiert werden? Sie will, dass keine stellvertretenden Stimmen mehr abgegeben werden und die "mobilen Wahllokale" der Vergangenheit angehören. Wenn man weiß, wie Wahlen in der Ukraine bisher abliefen, nämlich im patriarchalen Konsens - sprich: gemeinschaftlich organisiert - dann bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger, als dass die Beeinflussung der Wähler fortan nicht mehr in ihren jeweiligen Kollektiven oder auch direkt vor der Wahl stattfindet, sondern auf einen Wahlkampf vorverlagert wird. Dies mag ein Gewinn an formaler Demokratie sein; ob der automatisch zu mehr Demokratie im Sinne freiheitlicher Selbstbestimmung führt, wäre zu bezweifeln, wenn man sich die Wahlen in entwickelten Demokratien, zuletzt in den USA, anschaut.

Schließlich: Was beinhaltet die Zustimmung der Opposition zur Verfassungsänderung? Sie müsste darauf hinauslaufen, Präsidialbürokratie, Provinzbarone und die mit ihnen verflochtenen Oligarchen der ukrainischen Olikratur kontrollierbar zu machen. Käme es soweit, wäre das zweifelsfrei ein Gewinn für gesellschaftliche Transparenz. Doch soll - unabhängig davon, wer am 26. Dezember gewählt wird - die Verfassungsänderung erst ab September 2005 in Kraft treten. Bis dahin ist viel Wasser den Dnjepr hinuntergeflossen. Zudem lässt ein Blick auf die Akteure im Hintergrund erkennen, dass auch ein von der Opposition gestellter Präsident Spielball der Olikratur bliebe. Bezeichnend ist die Rolle, die Viktor Pintschuk, der Schwiegersohn von Leonid Kutschma, augenblicklich spielt. Er ist einer der einflussreichsten Oligarchen im Osten des Landes, was ihn nicht daran hinderte, die "orangene Revolution" kräftig zu alimentieren und US-Größen wie Kissinger, Soros und Brzezinski vor der Wahl zu einem Besuch der Ukraine einzuladen. Pintschuk hat es verstanden, Eier in viele Körbchen zu legen.

Bliebe noch anzumerken: Selbst 2.000 Beobachter der OSZE können nichts daran ändern, dass auch das korrekteste formaldemokratische Ritual nicht das entscheidende Hindernis für eine Selbstbestimmung der Ukrainer beseitigt - die Lage zwischen einer um ihren Bestand kämpfenden Russischen Föderation und einer expandierenden Europäischen Union. Dieser Konflikt wird auch nicht durch den einen oder anderen Präsidentschaftskandidaten gelöst, sondern allein durch Kooperation unter aktiver Teilhabe Russlands und der internationalen Staatengemeinschaft. So gesehen, könnte die Ukraine zum Testfall einer globalen Demokratisierung werden.


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