Das staubige Credo

Sargnägel und Sachzwänge Warum es heute undenkbar wäre, einen autofreien Sonntag einzuführen

Ende 1973, während der so genannten Ölkrise, waren an vier aufeinander folgenden Sonntagen die Straßen in Deutschland verwaist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehörten die Autobahnen und Straßen Fußgängern und Radfahrern. Wer alt genug ist, kann sich mit Sicherheit an die Bilder leerer Asphaltbänder erinnern, die sich schwerelos durch die Landschaften schlangen.

Damals kam der Feind von außen. Nach dem verlorenen Jom-Kippur-Krieg verhängten die ölexportierenden Länder der arabischen Welt Boykotte gegen Staaten, die mit Israel sympathisierten. Der Benzinpreis kletterte auf unvorstellbare 90 Pfennig. Und der Spiegel titelte in bester Panik-Manier: »Pro Liter eine Mark?«

Dieser Schock hatte zur Folge, dass der vom Club of Rome veröffentlichte Bericht Grenzen des Wachstums plötzlich mit Interesse gelesen wurde. Erstmals seit Kriegsende schien das Wirtschaftswachstum an Grenzen zu stoßen. Um nicht länger vom Öl der arabischen Staaten abhängig zu sein, wurde von nun an unter Bundeskanzler Helmut Schmidt die technologisch noch in den Kinderschuhen steckende Atomenergie mit Nachdruck gefördert.

Heute forciert die Rot-Grüne Regierung den Ausstieg aus der Atomenergie und der Fetisch Wachstum, gekoppelt an Konjunktur und Konsum, erlebt eine geradezu religiöse Anbetung. In der kürzlich geführten Debatte um die Feinstaubbelastung der Luft wurde das Thema Fahrverbot und die Erinnerung an leere Autobahnen und Landstraßen plötzlich wieder aktuell. Doch allein der Gedanke eines Fahrverbotes, etwa in deutschen Innenstädten, stieß schnell auf massiven Widerstand. Dafür ist nicht in erster Linie das grenzenlose Streben nach Mobilität, verbunden mit der heiligen Kuh Auto, verantwortlich. Kaum jemand argumentiert heute noch mit der »Freiheit des Fahrens« und persönlichen Einschränkungen der Beweglichkeit. Dieser Diskurs ist selbst dem ADAC und diversen Autoclubs fremd geworden. Selbstverständlich ist das Auto nach wie vor des Deutschen liebstes Kind und der Eindruck einer Autorepublik nicht von der Hand zu weisen. Ein Fahrverbot scheitert aber heute weniger am Widerstand der Autofahrer als vielmehr an den zwei Themen, die unsere politischen Debatten und unser Denken bestimmen und gegen die es keine Gegenstimmen mehr zu geben scheint: Arbeit und Konsum. Das Auto ist zwar untrennbar mit beiden Themen verbunden, aber nur in seiner Funktion, einen gedanklichen Zwang zu reproduzieren, der uns alle in seinem Griff hält.

Der deutsche Autokanzler Gerhard Schröder und sein kongenialer Minister Wolfgang Clement waren denn auch die Ersten, die Forderungen nach einer Begrenzung der Feinstaubbelastung durch Fahrverbote sofort als populistisch diffamierten. Superminister Clement forderte eine Umsetzung der EU-Richtlinie »mit Augenmaß«. Denn man müsse verhindern, dass »wir der Automobilindustrie die Rote Karte zeigen«. Zudem wäre die ganze Debatte um Feinstaubbelastungen ein sekundäres Thema. Die wichtigste Frage der Gegenwart sei vielmehr: »Wie kriegen wir die Konjunktur in Gang und schaffen Arbeitsplätze?« Er habe Befürchtungen, dass Fahrverbote und Druck auf die Autoindustrie »zum Sargnagel für die Konjunktur werden könnten.« Und außerdem »dürfe nicht so getan werden, als sei der Feinstaub das deutsche Problem.« Das sei »vielmehr der Arbeitsmarkt und der Aufbau Ost.« Und im übrigen, so hakte Clement nach, »sei ein Staubsauger nicht weniger gesundheitsgefährdend als die Dieselfahrzeuge.«

Nun ist das nicht ganz falsch, denn unabhängige Experten warnen schon lange davor, dass man in geschlossenen Räumen mitunter einer fünffach höheren Belastung an Feinstaub ausgesetzt ist als an der frischen Luft. Besonders im Büro wird Feinstaub in rauen Mengen produziert: Laserdrucker und Kopiergeräte, aber auch Staubsauger in Privaträumen sind wahre Feinstaubschleudern. Wahrscheinlich ist man im Auto am wenigsten vom Feinstaub tangiert. Fahren ist auch noch gesund. Das müsste Clement mal jemand sagen.

Unabhängig davon bleibt aber die Tatsache, dass wir offensichtlich unter einem Zwang stehen, der alle öffentlichen Debatten sofort auf ein einziges Credo bringt: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Clement trifft hier auf einen starken Partner. »Arbeit geht vor!« lautete bekanntlich vor kurzem der Leitspruch des Bundespräsidenten Köhler für die deutsche Gesellschaft. Also: Lieber an Lungenkrebs sterben, als nichts für Konjunktur und Rente tun. Das bisschen Staub können wir auch noch schlucken, solange die Industrie dafür wächst. Denn was nützen einem gesunde Lungen ohne einen richtigen Arbeitsplatz, zum Beispiel in der heimischen Automobilindustrie?

1973, zur Zeit der Ölkrise, war es nicht ein ökologisches oder gesundheitliches Bewusstsein, das zu Fahrverboten führte. Es schrie auch niemand nach Arbeitsplätzen. Es war die Erfahrung der Knappheit und des Mangels, die in einer prosperierenden Phase einen kollektiven Schock erzeugte. Man sah sich plötzlich wieder an die Nachkriegszeit erinnert, als die täglichen Güter knapp oder gar nicht vorhanden waren. Der steigende Ölpreis erinnerte an Inflation und eiserne Blockade. Es wurde einem von außen »der Hahn« abgedreht. Gegen diesen Angriff half nur Sparen und sich Einschränken. Außerdem war der Gebrauch eines Autos noch nicht zur Gewohnheit geworden. In vielen Haushalten war das Auto immer noch Luxus. Ein zeitweiliger Verzicht erschien noch nicht als wesentlicher Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte.

Heute, wo die Ölvorkommen objektiv weniger geworden sind und der Preis für Benzin unvergleichlich höher, interessiert sich (fast) niemand für Sparmaßnahmen. Zwar wird bei jeder Benzinpreiserhöhung kräftig geflucht und die Industrie heftig kritisiert, gefahren wird aber trotzdem. Der mangelnde Sparsinn, den die Politik auch noch hätschelt, hängt damit zusammen, dass wir ein Stadium der Ökonomie erreicht haben, in dem der Konsum und nicht mehr die Produktion im Mittelpunkt wirtschaftlicher Überlegungen steht. Krisen sind in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Überproduktionskrisen – es fehlen einfach die Käufer. Während der frühe Kapitalismus Akkumulation, also Sparen ins Zentrum seiner Moral stellte, verwandelte sich dieser Puritanismus der Frühzeit in einen fröhlichen Hedonismus. Die Ökonomie braucht mehr denn je den konsumgeilen Verbraucher, etwa den hemmungslosen Autofahrer, der die Wirtschaft am Laufen hält. Das Jammern über den analen Konsumenten, der zurückhält, was er verbrauchen könnte, ist zu einem Dauerthema von Politik und Wirtschaft geworden. Und so wird jeder Versuch der Begrenzung des Konsums zu einer Art Damoklesschwert, das über uns hängt und dem wir alles opfern müssen. Am Ende auch uns selbst. Das Auto dient aktuell nur als Metapher für eine Absatzkrise, die im leise andiskutierten Fahrverbot ihren Todesstoß erhält. Der Feinstaub legt sich auf den Sargdeckel der Konjunktur. Die Argumente der Autogegner, im wesentlichen dem Gesundheitsdiskurs verpflichtet und weniger der Ökologie, sind so nur kleinliche und egoistische Attitüden, die »der« Wirtschaft schaden. Und damit, so wird uns suggeriert, uns allen.

Anlässlich der Diskussion um Feinstaubbelastung meldeten sich folgerichtig sofort diverse Konsumapostel unisono zu Wort. »Die Feinstaubdebatte könnte den nächsten Autofrühling, auf den wir (?) seit Jahren warten, weiter verzögern«, beklagte der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer. Hamburgs Umweltsenator Michael Freytag (CDU) blies ins selbe Horn: »Fahrverbote sind Arbeitsplatzkiller«, sie »seien Gift für den Wirtschaftsstandort Hamburg und den ohnehin lichterloh brennenden Arbeitsmarkt«. Grundkonsens aller Apologeten: Die Feinstaubrichtlinie der EU ist ein »Konsumhemmnis ersten Ranges«, so der Sprecher des Hauptverbandes Deutscher Einzelhandel (HDE), Hubertus Pellengahr. Die von der EU festgesetzte Grenze der Belastung mit Feinstaub dürfe deshalb kein Tabu sein. Über die Höhe der Grenzwerte müsse noch einmal diskutiert werden. Die Konsummaschinerie könnte sonst noch mehr ins Stocken geraten. Denn von ein bisschen Staub lässt sich der bundesdeutsche Verbraucher nicht erschrecken. Vielmehr von der Vorstellung, öffentliche Verkehrsmittel benutzen zu müssen oder den »langen Marsch« in die Innenstädte mangels fehlender Automobilität anzutreten.

Es scheint, als ob heute alle Regierungsmaßnahmen nur noch danach unterschieden werden, ob der Konsum damit gefördert wird oder nicht. Der Vorzug gehört dabei immer dem ersteren Prinzip. Denn: Konsum schafft Arbeitsplätze, Arbeitsplätze bringen Konsum und so weiter. Permanent zu konsumieren ist so zum Gebot der Stunde geworden. Konsumieren ist ein heiliger Akt, der möglichst nicht unterbrochen werden soll.

Daraus folgt: wenn ich Auto fahre, unterstütze ich den Aufschwung, schaffe und erhalte Arbeitsplätze, helfe der deutschen Wirtschaft, mache dem Bundeskanzler eine Freude. Fahren für die Konjunktur. Nicht zu fahren würde das Gegenteil bedeuten: Rezession, leere Läden, riesige Parkplätze angefüllt mit neuen Autos, die keine Fahrer finden, lange Schlangen in der Bundesanstalt für Arbeit. Fahren in die Garage ist gleich fahren in die Katastrophe. Selbst das mächtigste Argument, das unsere Gesellschaft kennt, Gesundheit, scheint diesem moralischen Druck nicht gewachsen. Und politisch wurde bis dato sowieso alles dafür getan, die geltenden Richtlinien verzögert und mit großzügigen Spielräumen zu handhaben.

Auch wenn wir in der Feinstaubdebatte ein Stück weit Hysterie erkennen mögen: der Traum von autofreien Sonntagen wird sicher nicht mehr Realität, selbst wenn die Mehrheit der Deutschen das befürworten würde. Im Gegenteil: wahrscheinlich muss man irgendwann nachweisen, auch genügend gefahren zu sein. Eine Pflicht zum Konsum, das wäre ein zwar schwer umsetzbares, aber doch denkbares Gesetz. Vielfahrer bei LKWs kriegen ja schon heute Rabatte.

Der Gedanke an leere Autobahnen fällt einem heute aber ehrlich gesagt auch irgendwie schwer, ohne jetzt genau sagen zu können, warum. Auffallend ist, dass die Erinnerung daran mehr Kultcharakter besitzt als ernsthafte Beschäftigung ist. Bonanzaräder auf Autobahnen, das war cool und damit Kult. So ist auch der autofreie Sonntag zu einer Art von Marke geworden. Könnten wir ihn konsumieren, wäre er sicher schon wieder eingeführt. Da wartet noch eine Geschäftsidee mit Perspektiven. Bis dahin: bitte anschnallen und weiterfahren!

Alexander Meschnig veröffentlichte mit Mathias Stuhr er kürzlich Wunschlos unglücklich. Alles über Konsum. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2005


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