Das Stück vom guten Dmitri und bösen Wladimir

Irritationen über Russlands Außenpolitik Kollision mit dem Westen oder Sicherheitszone von Vancouver bis Wladiwostok?

Dmitri Medwedjews erste hundert Tage als Präsident endeten mit einer äußerst schweren Bewährungsprobe. Georgiens Präsident befahl am 7. August den Angriff auf die völkerrechtlich nicht anerkannte Republik Südossetien und ließ die Hauptstadt Zchinwali mit Artillerie und Panzerkanonen unter Beschuss nehmen. Russland musste reagieren - die Verantwortung dafür, wie das zu geschehen hatte, trug allein Dmitri Medwedjew. Er hatte dabei nur zwischen einigen wenigen Möglichkeiten zu wählen, und sie waren - jede für sich - alles andere als gut. Es konnte auf keinen Fall das Interesse Russlands sein, im Kaukasus in einen derartigen Konflikt hinein gezogen zu werden, doch musste der Kreml entschiedene Maßnahmen ergreifen, um seine Bürger zu schützen. Was danach kam, war gewiss eine Tragödie, an der jede Konfliktpartei ihren Teil an Verantwortung und Schuld zu übernehmen hat. Michail Saakaschwilis strategischer Fehler bestand darin, dass er glaubte, bei allem, was er tat, stets nur gewinnen zu können. Doch es ist eine objektive Wahrheit, dass Georgien in seinen derzeitigen Grenzen nicht der NATO beitreten kann, ohne territoriale Verluste in Kauf nehmen zu müssen.

Die russische Regierung hätte jedoch energischer, durchdachter und vor allem präventiv handeln sollen, um zu verhindern, dass die Gegnerschaft mit Saakaschwili in einem Maße eskaliert, wie das inzwischen geschehen ist. Im gleichen Atemzug muss über die Verantwortung des Westens, besonders der USA, geredet werden. Ohne sich eines amerikanischen Wohlwollens sicher zu sein, hätte Georgiens Staatschef nie ein solches Wagnis riskiert.

Als georgische Truppen Zchinwali in Schutt und Asche legten, war Wladimir Putin in Peking, um russischen Sportlern bei den Olympischen Spielen Rückhalt zu geben. Er brach seinen Aufenthalt in China ab und zeigte ein weiteres Mal seinen Landsleuten (wie auch dem Rest der Welt), wer in Russland real Entscheidungen trifft und das Land regiert. Jüngste Umfragen zeigen übrigens, dass viele Russen glauben, das Land werde weiter von Putin gelenkt, etwa gleich stark ist die Ansicht verbreitet, Putin und Medwedjew würden gemeinsam führen - eine verschwindende Minderheit sieht in Medwedjew den wahren Herrscher. Das bedeutet keineswegs, dass in Russland ein Tandem an der Macht ist, bei dem Putin endgültig die Rolle des Führenden und Medwedjew lediglich die des Geführten übernommen hat.

Zumindest auf außenpolitischem Feld lässt sich keine Hierarchie, sondern eher ein Zwiespalt in der russischen Staatsführung erkennen. Im Juli teilte Medwedjew mit, er habe einen Erlass über ein neues Konzept unterschrieben, von einer Außenpolitik auf "sachlicher Grundlage und ohne ideologische Komponenten" war die Rede. Darin wurde es als "Hauptziel der russischen Europapolitik" bezeichnet, "ein wirklich offenes demokratisches System der kollektiven Sicherheit und Zusammenarbeit zu schaffen, das die Einheit der euroatlantischen Region - von Vancouver bis Wladiwostok - gewährleistet". Dies müsse das Ergebnis eines gleichberechtigten Zusammenwirkens "Russlands, der Europäischen Union und der USA" sein. Die russisch-amerikanischen Beziehungen seien in den "Zustand einer strategischen Partnerschaft zu überführen". Man sollte meinen, dieses Plädoyer werde dem Land eine so folgerichtige wie durchdachte Außenpolitik verschaffen. Bald nachdem Medwedjews Erklärung veröffentlicht war, kursierten in unserer Presse jedoch die Offenbarungen einer anonymen "hochgestellten Quelle aus dem Außenministerium", der zufolge Russland alle Kontakte mit den USA abbrechen sollte. Es folgten Gerüchte, die militärische Zusammenarbeit mit Kuba werde wieder aufgenommen, es tauchten sinnlose Vorschläge auf, zum Beispiel: Russische Bomber, die an der US-Küste patrouillieren, sollten die Möglichkeit haben, auf Kuba zwischenzulanden. Die gleiche Quelle aus dem Außenministerium erklärte: "Als Premier kann Putin allein schon deshalb Einfluss auf die Außenpolitik nehmen, weil er sich mit realen Dingen befasst." - Was also will Russland wirklich? Gemeinsam mit der EU und den USA einen Sicherheitsgürtel von Vancouver bis Wladiwostok aufbauen? Oder den Vereinigten Staaten mit einer neuen Kuba-Krise drohen?

All das lässt vermuten, Russlands Außen- und Sicherheitspolitik folgt zwei unterschiedlichen, sich teilweise ausschließenden Stoßrichtungen. Davon lässt sich die eine mit dem Präsidenten, die andere mit dem Regierungschef assoziieren.

Kollidieren würden die beiden nur, sollte einer den Sieg über den anderen davon tragen wollen. Viele glauben allerdings, es handelt sich um eine geschickte Inszenierung, Putin und Medwedjew gehören zu ein und demselben Team, es gibt keine ernsthaften Differenzen. Für die Zuschauer wird drinnen wie draußen lediglich das alte Stück vom guten Dmitri und bösen Wladimir gespielt, bei dem es keinem von beiden schwer fällt, die Situation unter Kontrolle zu behalten.

Alexander Konowalow ist Präsident des Instituts für Strategische Studien in Moskau.

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