Jahrelang hielt man sich in den überregionalen Medien zurück, wenn es darum ging, die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland kritisch zu durchleuchten. Man wollte die Einheit nicht schlecht reden und Wasser auf die Mühlen der PDS leiten, sondern vertraute lieber auf Besserung in der Zukunft. Als Wolfgang Thierse vor vier Jahren erklärte, der Osten stünde wirtschaftlich und sozial "auf der Kippe", und ein Aktionsprogramm für die Region forderte, pfiff ihn nicht nur der Kanzler zurück, auch in der Öffentlichkeit sprang ihm kaum jemand zur Seite.
Das hat sich nun geändert. Der Spiegel brachte im letzten September seine Titelgeschichte Jammertal Ost, im Oktober legte der ZDF-Kulturjournalist Wolfgang Herles mit dem Buch Wir sind kein Volk. Eine Polem
sind kein Volk. Eine Polemik (Freitag 45/2004) noch nach und beschrieb "ein vom Vereinigen ramponiertes Land", das in einer tiefen "Misere" stecke. In diesem Frühjahr setzt der Welt-Reporter Uwe Müller noch eins drauf. Unter der Überschrift Zeitbombe Ost - Gefahr für ganz Deutschland vermarktet der Rowohlt-Verlag dessen 250-Seiten-Werk, in dem es an starken Worten nicht fehlt: Der Osten ist "ökonomisch verwüstet" und hat seine gute Zeit schon hinter sich. "Nichts wird sich zum Besseren wenden, im Gegenteil." In den vergreisten Landstrichen seien die "Aufbaugelder verschleudert" worden, was einem "finanziellen Harakiri" gleichkomme. Wenn der Westen jetzt nichts unternehme, werde er "dem Osten in den Abgrund folgen". Mit alarmistischen Tönen und dramatischen Fakten - wobei viele Zitate und Zahlenangaben leider nicht belegt werden - entwickelt Müller ein Szenario, das schrecklicher kaum sein kann.Wenn es einem gelingt, über das vordergründige Sensationsgerassel hinweg zu hören und man sich ganz in Ruhe auf die dargestellten Probleme konzentriert, so stößt man durchaus auf viele realistische Einschätzungen zu den verschiedenen Phasen der Industriepolitik, zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der anhaltenden Abwanderung (vor allem junger Frauen), zum Stand der Verschuldung der einzelnen Länder und zu den geringen Aussichten auf eine selbsttragende Wirtschaft in der Region. Wenn man das gelesen hat, glaubt man keinen beschönigenden Politiker-Reden mehr.Doch spätestens nach 50 Seiten Katastrophenmeldungen entsteht beim Leser das dringende Bedürfnis, Gründe für den erschreckenden Ist-Zustand benannt zu bekommen, will man wissen, warum sich all diese Probleme aufhäufen konnten. Müller bietet immer wieder Erklärungsansätze, die von der geheim gehaltenen enormen Staatsverschuldung der DDR über die völlig marode volkseigene Wirtschaft bis hin zur verfrühten Währungsunion und einer falschen Treuhandpolitik reichen, wobei er für letztere nur Unvermögen gelten lässt, jeden Vorsatz zur Ausschaltung von Konkurrenz und zur Deindustriealisierung des Ostens aber zurückweist.An manchen Stellen blitzen in Halbsätzen Einsichten auf, die dann leider nicht weiter ausgeführt werden. So beschreibt er völlig zu recht, dass die Ost-Betriebe durch die fehlende wirtschaftliche Übergangszeit "nicht den Hauch einer Chance" auf dem hoch effizienten West-Markt hatten. Auch die Politik, Ungleiches gleich zu behandeln, also dem Osten mit ganz anderen Bedingungen das komplizierte West-Regelwerk mit all seinen "irrwitzigen Maßstäben" überzustülpen, konzediert er als Fehler.Doch wenn er dann im zweiten Teil seines Buches über das "süße Gift der Verschuldung" schreibt, kommt er nicht ein einziges Mal mehr auf die zwangsverordneten bürokratischen Institutionen und die nach Osten ausgedehnten Flächentarifverträge ohne geeignete Öffnungsklauseln zu sprechen, sondern diagnostiziert den Ostdeutschen vor allem "Anspruchsmentalität und Wohlstandsillusionen", "Verschwendungssucht und Maßlosigkeit" sowie eine tief sitzende "Subventionsmentalität". Zwar beschreibt er ausführlich den Abbau der ostdeutschen Produktionsstandorte. In allen fünf neuen Ländern zusammen finden sich heute nur noch 8,8 Prozent der deutschen Betriebe. Müller beklagt auch das Fehlen einer "übergeordneten Industriepolitik" für die Region. Doch wenn er das Ausbleiben einer zweiten Gründerwelle benennt, kommt er mit keinem Wort auf die Kreditpolitik der Banken zu sprechen, die Sicherheiten wie im Westen verlangen, obwohl im Osten nie privates Immobilieneigentum in vergleichbarem Umfang angeschafft werden konnte. Dafür muss wieder das Klischee von Ostlern herhalten, denen die "Eigeninitiative offenkundig abhanden gekommen" sei. Ursachen werden dann im Genetischen gesucht: "Haben die Ostdeutschen andere Gene als die Westdeutschen? Sind es die Nachwehen des alten Systems, in dem unternehmerisches Engagement unerwünscht war?", fragt sich ratlos der Autor.Im Schlussteil des Buches konstatiert Uwe Müller dann durchaus schlüssig, dass der "Aufbau Ost als Nachbau West nicht funktionieren kann", weshalb er statt purer Subventionen echte Wettbewerbsvorteile für den Osten fordert, wozu er größere Gestaltungsmöglichkeiten im rechtlichen und finanziellen Bereich, wie etwa die regionale Absenkung von Steuern, vorschlägt. Durch Sonderregeln soll es gelingen, "die östlichen Bundesländer wieder zum Leben zu erwecken". Als einzigen Ausweg sieht er, "dass sich der Osten aus der Umklammerung des Westens löst und für seine besonderen Probleme eigene Lösungen findet". Genau dies aber ist in der Wendezeit versäumt, ja bewusst verhindert worden. Alle Vorstöße in diese Richtung sind in den vergangenen 15 Jahren immer wieder gescheitert, da die westdeutsche Industrie keine Konkurrenz durch einen flexibleren Osten will. Das müsste der langjährige Leipzig-Korrespondent des Hauses Springer eigentlich wissen, weshalb er auch die Antwort schuldig bleibt, von wem das politisch umgesetzt werden soll.Trotz all dieser Einwände ist es erfreulich, dass bei der Bestandsaufnahme der aktuellen Probleme wenigstens Klartext geredet wird und die Zeit der blumigen Zukunftsvertröstungen endlich zu Ende zu gehen scheint.Uwe Müller: Supergau Deutsche Einheit. Rowohlt Berlin, Berlin 2005, 255 S.,12,90 EUR