Das System Frontex

Bühne Hans-Werner Kroesinger zerlegt in Berlin den bürokratischen Schutzwall der Festung Europa
Ausgabe 51/2013
Das System Frontex

Foto: David Baltzer/ bildbuehne.de

Etwas nicht zu Entscheidendes entscheiden zu müssen und deshalb in den nächsten Fehler auszuweichen, das gehört zu den wesentlichen Momenten von Dramatik. Die EU-Flüchtlingspolitik im Mittelmeer ist davon gezeichnet und mit Tausenden von Ertrunkenen mehr als schwer belastet. In Lampedusa gibt es nicht nur einen Friedhof mit all den aufgebrachten Risikokuttern, auf der kleinen Insel näher an Afrika als an Sizilien scheinen auch alle Hoffnungen begraben, das sogenannte Flüchtlingsproblem trotz aufgerüsteter Euro-Frontex-Truppe je in den Griff zu bekommen.

Der Dokumentartheaterspezialist Hans-Werner Kroesinger hat nun im Berliner HAU dazu einen aufwendig recherchierten Abend gemacht. Drastische Flüchtlingsgeschichten aus Afrika wurden schon bis ins Kindertheater hinein erzählt. Kroesinger entscheidet sich dagegen für die im Theater naturgemäß schwierigere Systemdarstellung. Frontex also ist gar keine Grenzschutztruppe der EU, sondern eher eine Koordinierungsbehörde mit Sitz in Warschau und operativem Zugriff auf Einsatzkräfte der Mitgliedsstaaten.

Texte aus den Euro-Apparaten

Paradoxerweise liegen die Anfänge von Frontex im Schengenabkommen zum passfreien Grenzverkehr. Kroesinger lässt seine vier Schauspieler dazu gehörende Dokumente vortragen oder nachspielen: Presseverlautbarungen, interne Kommuniqués, Dossiers, Rechtfertigungsinterviews. Alles vor einer weißen Wand mit einer EU-Fahne, deren Sternenring an der südöstlichen Seite mit zusätzlichen Sternen zu einer Art Sternenwall abgeklebt wird. Es wimmelt von Spezialunterorganisationen mit geheimnisvollen Namenskürzeln und einem Wirrwarr von Verantwortlichkeiten. Genau das soll auch rüberkommen. In einem Gespräch über Dokumentartheater in der Berliner Akademie der Künste wies Kroesinger kürzlich darauf hin, dass man bei einer solchen Untersuchung und auch generell als Historiker nicht nur darauf achten soll, was Politiker sagen, sondern vor allem, wofür Staaten ihr Geld ausgeben.

Gleicht der erste Teil auf der Bühne im HAU 1 einer Lehreinführung in das Frontex-Geflecht, wird nach 90 Minuten recht überraschend mit der Frage „Soll man die Grenze nicht einfach öffnen?“ in ein Regalgeviert auf die Hinterbühne gebeten. Nun wird es konkreter, der Zuschauer sitzt vielleicht im Laderaum eines Frachters und hört die Geschichte der letzten großen Lampedusa-Katastrophe, die im Oktober in den Beginn der Probenarbeit eindrang. Der Funkverkehr zwischen einem havarierten Schiff mit Behörden in Italien, die dann auf Malta verweisen, während die Minuten in Panik verrinnen, nimmt das Thema der bürokratisch entregelten Unzuständigkeiten aus dem ersten Teil auf. Nicht Frontex an sich ist das Problem, sondern wie es bereits aus den entscheidungsträgen Haltungen der Einzelstaaten heraus offenbar nicht richtig funktionieren kann.

Eingeschoben werden Exkurse über das Ertrinken aus medizinischer Sicht, über den Asylbegriff der Antike mit dem Tempel als Freistatt, und sogar ein Fetzen Heiner Müller weht herein in die Texte aus den Euro-Apparaten. Judica Albrecht, Sina Martens, Lajos Talamonti und Armin Wieser referieren in schlichtem Bürooutfit die Katastrophen. Gekontert wird das durch den hochdramatischen Gesang von Yuka Yanagihara. Ein so belehrender wie bedrückender Abend.

FRONTex SECURITY Regie: Hans-Werner Kroesinger. Termine unter hebbel-am-ufer.de

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