Thomas Bernhard schilderte in seinen Jugenderinnerungen Ein Kind (1982), wie er vom Hausarzt zur Erholung in ein Thüringer Kinderheim „verschickt“ wurde. Seine alleinerziehende Mutter war überfordert, sie brauchte eine Auszeit. Im Heim war Bernhard „schon in der ersten Nacht als Bettnässer entlarvt“. Sein Leintuch wurde im Frühstückszimmer aufgespannt und er als Verursacher des Urinflecks bloßgestellt. „Der Bettnässer wurde aber nicht nur auf diese Weise bestraft, er bekam auch keine sogenannte süße Suppe wie die anderen, er bekam überhaupt kein Frühstück“, so der Schriftsteller.
Bernhards „Kur“ fand 1938 statt, und man könnte meinen, das seien damals eben noch altmodische Erziehungsmethoden gewesen. Doch weit gefehlt: Anja Röhl legt in Das Elend der Verschickungskinder dar, dass derlei Zucht- und Ordnungsmaßnahmen in westdeutschen Verschickungsheimen – teils bis in die 1990er-Jahre – flächendeckend Usus waren. Ihre Forschungsergebnisse erschüttern: Statt Erholung gab es vielerorts körperlichen und seelischen Missbrauch, unrechtmäßige Medikamentengaben, medizinische Versuche, Sedierungen durch Contergan und sogar einige nie aufgeklärte Todesfälle. Kinder, die mit der Verschickung gute Erfahrungen machten, hatten offenbar schlicht Glück.
Laut Autorin verbrachten ungefähr acht bis zwölf Millionen Kinder in den 1950er- bis 1990er-Jahren jeweils sechs Wochen, manchmal auch Monate, in weit über tausend westdeutschen Kindererholungsheimen und Heilstätten. In den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einen regelrechten Verschickungsboom, der, wie Röhl zeigt, ein höchst einträgliches Geschäft war. Die Verschickungsorte, häufig auf Inseln, erlebten einen wirtschaftlichen Aufschwung, auch die Deutsche Bahn profitierte von den vielen kleinen Reisenden. Bekannte Kur- und Erholungsorte waren etwa Norderney oder Berchtesgaden. „Haus Glückauf“, „Bergfreude“ oder „Kinderparadies“ hießen manche Einrichtungen, jedoch verbargen sich dahinter oft sadistische Verwahrungsanstalten.
Über das, was die Kinder erlebten, war bis dato wenig bekannt, weil nichts nach draußen drang. Kontakt zu den Eltern war während des Kuraufenthalts nicht erlaubt, Post an sie wurde zensiert, und Pakete von den Angehörigen meist einkassiert. Die „Tanten“, wie die Erzieherinnen genannt wurden, trimmten ihre Opfer, den Mund zu halten. Weil die Kinder sich schämten oder für Einzelfälle hielten, schwiegen sie nach der Rückkehr in die Familie. Gaben einige trotzdem etwas preis, wurden sie als kindliche Fantasten abgetan oder angeherrscht, sich „nicht anzustellen“. Und wenn Eltern sich doch mal beschwerten, verschanzten die Verwaltungsstellen sich hinter Schutzbehauptungen, die Schuldigen waren angeblich stets die Kinder.
Systematisch gedemütigt
Es ist Anja Röhl zu verdanken, dass dieses bisher verdrängte Kapitel der Nachkriegszeit jetzt endlich aufgearbeitet wird und die Opfer ihr Schweigen brechen. Die Autorin war selbst als Fünfjährige nach Wyk auf Föhr verschickt worden und kam noch kränker als zuvor aus dem „Folterheim“ zurück. 2003 veröffentlichte sie ihre Erfahrungen. Daraufhin bekam sie 250 Zuschriften von Betroffenen, die wie sie Traumatisches erlebt hatten und bis heute unter Angst- und Bindungsstörungen oder Depressionen leiden. Nicht selten war die Beziehung zu den Eltern, die ihre Kinder dieser Situation ausgesetzt hatten, dauerhaft durch Misstrauen geschädigt. Röhl ahnte, dass das Ausmaß an Folgeschäden weitaus größer als bislang angenommen ist. 2019 tat sie sich mit Wissenschaftlern zusammen, sie gründeten einen Förderverein und brachten einen ersten Fachkongress auf den Weg. Report Mainz griff das Thema auf, womit der Stein öffentlich ins Rollen kam. Nun, da das Tabu gebrochen war, kehrten bei vielen ehemaligen Verschickungskindern die verdrängten Erinnerungen zurück.
Mit dem Nexus-Institut entwickelte Röhl einen Fragebogen, den Tausende Betroffene beantworteten, sodass Röhl nun auch erste empirische Zahlen vorlegen kann. Sie betont, dass die Forschung erst am Anfang stehe und die Verschickungsverhältnisse in der DDR noch keineswegs berücksichtigt sind. Die Auswertungen beweisen, dass „eine ganze Generation von Kindern“, die keineswegs nur aus sozialen Problemgruppen stammten, quer durch Westdeutschland systematisch gedemütigt, misshandelt und gebrochen wurde. Sie wurden wegen schwerer Erkrankungen oder auch nur geringfügiger Beschwerden, überwiegend im Alter von drei bis elf Jahren, wie Pakete mit einem Pappschild vor der Brust, stundenlang allein im Zug, ins Heim verschickt. Dort mussten sie ihre Habseligkeiten, oft auch ihre Kuscheltiere, abgeben und sich einem brutalen Abfertigungsbetrieb unterwerfen: vollkommen ausgeliefert. Wer sich nicht beugte, hatte es besonders schwer. Und wer vor Heimweh und lauter Angst weinte, wurde geschlagen, festgebunden, in die Ecke gestellt oder weggesperrt. Erbrochenes musste unter allen Umständen aufgegessen oder vom Boden geleckt werden. Manchen Kindern wurde der Mund mit Pflaster verklebt, bis sie den Bissen heruntergewürgt hatten. Denn Gewichtszunahme galt offenbar als wichtigstes Kriterium für den Kurerfolg. Dies, so die Sonderpädagogin, „würde auch die so häufig genannten Zucker-Mehl-Suppen erklären“ und die verordneten „Speckdiäten“. Bei zwei plötzlich verstorbenen Kindern ließen sich Speisereste in den Atemwegen nachweisen, doch als Todesursache wurden andere Gründe angegeben.
Insbesondere kindlich angemessene Reaktionen wurden hart geahndet: „Die Kinder sind bestraft worden dafür, dass sie ins Bett oder auf den Boden gemacht hatten, obgleich man ihnen den Toilettengang verboten hatte; sie sind dafür bestraft worden, dass sie aus Kummer oder Ekel nicht essen konnten, weil man es ihnen eingezwungen hatte; sie sind für das Nichtzunehmen an Körpergewicht bestraft worden. Und die ‚Tanten‘ bestraften diese Vorgänge mit Wut, mit Wildheit, mit Anschreien, mit unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen, sie bestraften die unwillkürlichen Vorgänge der Kinder mit eruptiven Gewaltausbrüchen“, so Röhl. Willkürliche Handlungen wie Gemeinheiten oder Gewalt gegen Schwächere indes wurden „pädagogisch“ geradezu gefördert. Und die Eltern glaubten unterdessen, ihren Kindern eine fröhliche Zeit am Meer oder in den Bergen zu gönnen.
Die Kinderverschickungen gingen nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Kinderlandverschickungen unter den Nationalsozialisten hervor. Röhl weist in ihrer Suche nach den Ursachen für die ausführlich dargestellten Missstände nach, dass Klinikleiter, Mediziner und die „Tanten“, die während der NS-Zeit als Pflegerinnen und Schwestern ausgebildet worden waren, lange ungestört in der NS-Tradition weiteragierten. Die Verantwortlichen waren durch eine frühkindliche NS-Sozialisation, durch Gewalterziehung und ihre Berufe gänzlich vom NS-System geprägt. Erwiesene NS-Täter, die an der Euthanasie beteiligt waren, glänzten nach dem Krieg bis in die 1970er-Jahre als Leiter von Kinderheilstätten, gefeiert als Erziehungspäpste, ohne dafür psychologisch oder pädagogisch qualifiziert zu sein. Und dieselben „Schwestern“, die in den Euthanasieanstalten die tödlichen Spritzen setzten, betreuten als Erzieherinnen die ihnen anvertrauten Kinder, als wären diese Feinde, deren Autonomiebestreben es zu zerstören galt. Kindererholungsheime und -heilstätten, so Röhl, boten die idealen Bedingungen, um unbeobachtet Unheil über die Kinder zu bringen.
Erst 1989 wurde das Recht auf Mutter-Kind-Kuren gesetzlich verankert und der Verschickung von Kleinkindern und Kindern ohne elterliche Begleitung allmählich ein Ende gesetzt. Anja Röhls grundlegendes Buch geht mitunter an die Schmerzgrenze, doch wer begreifen will, wie die NS-Hinterlassenschaften bis heute auch auf diese Weise in den Menschen weiterwirken, sollte es sich zur Pflichtlektüre machen.
Info
Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt Anja Röhl Psychosozial-Verlag 2021, 305 S., 29,90 €
Kommentare 29
Dann können wir auf diese "Verschickungsverhältnisse in der DDR" mal sehr gespannt sein. Bisher wurden ja die Übel jeglicher Art immer zuerst in der DDR gefunden und als systemische der Diktatur ausgeschlachtet. Da staunt man nun schon ein wenig. Na, eigentlich überhaupt nicht mehr.
Worauf man wirklich gespannt sein könnte - wenn denn jemand die jahrelange Forschungsmühe auf sich nehmen und finanziert kriegen würde -, wären die feinen Unterschiede im Kindererholungs- und -genesungsheimwesen West und Ost. Die Grundstrukturen der Verwaltung, die Logistik, die materielle Ausstattung u.dgl.m. werden sich nur geringfügig unterschieden haben. In der DDR gab es spätestens seit den 1950ern keine privat geführten derartigen Einrichtungen mehr, womit also das Profitinteresse wegfiel. Aber in Ost UND West sind nach dem Krieg Menschen vom selben Schlag angetreten, z.B. in solchen Berufen zu agieren. (Vielleicht gab es in der DDR weniger Personen, die den Job auch schon vor 1945 gemacht hatten - vielleicht...) Aber generationell waren sie hier wie da von der Johanna-Haarer-mäßigen Schwarzen Pädagogik betroffen und beeinflusst. Weil sie selbst als Kinder so aufgezogen wurden und weil sie die Prinzipien mehr oder weniger auch als berufliche Richtlinien gelehrt bekommen hatten. Ein Unterschied Ost / West ist hier anzumerken: Haarer kam in der DDR sofort auf den Index, in der BRD sind ihre 1930er-Jahre-"Klassiker" leicht retuschiert bis in die 1980er als Erziehungsratgeber erfolgreich verlegt worden.
Das autoritäre Element, das in der Kinderbetreuung eine Basis für Machtausübung und Übergriffigkeit ist, hat es in der DDR ganz gewiss auch gegeben. Dort ist es aber weniger von der "kommunistischen" Ideologie hervorgebracht worden, wie es ja heute als Erklärung Konsens ist, sondern stellt eine Modifikation der allgemeinen historischen Autoritarismen vom wilhelminischen über's 1000-jährige Reich bis in die Post-68er-Zeit dar.
Es hat in den Geschlechterbeziehungen, auch in den grundlegenden Arbeitsbeziehungen in der Produktion usw. Ost-West-Unterschiede gegeben (worüber natürlich jede Menge gegensätzlicher Meinungen vorkommen). Da wäre das Thema Kinderbetreuung in Einrichtungen welcher Art auch immer ebenfalls unvoreingenommen und gründlich zu untersuchen. Anders als bisher, wenn das für den Osten an Einzelbeispielen schon mal thematisiert wurde. Wirklich gravierende Unterschiede im Sinne von Kinderparadies vs. Kinderhölle wird man aber wohl nicht feststellen können.
Ich war in dem Heim, das auf der Postkarte aus Oberstaufen abgebildet ist. Einige Wochen 1966 oder 1967.
Es war streng geführt und es ging wohl auch um unterschiedliche Ziele bei uns Kindern. Ich war mangelernährt und sollte aufgepäppelt werden, andere waren wohl eher verhaltensauffällig und sollten in die Spur gebracht werden.
Und ja es gab sicher auch einige Anhänger der Nazi-Methoden, ich kann mich jedoch an keine Übergriffe oder körperliche Strafen erinnern. In meiner Erinnerung überwiegt das Gefühl von Heimweh und Verlorenheit und das ist ja auch genug an Qual für ein acht- oder neunjähriges Kind.
"In meiner Erinnerung überwiegt das Gefühl von Heimweh und Verlorenheit und das ist ja auch genug an Qual für ein acht- oder neunjähriges Kind." - Ja, das ist es. Und das ist zu damaligen Zeiten leider meist gar nicht so ernst genommen worden.
Alles Gute! :-)
Danke für die Rezension des Buches. Es kommt auf meine Leseliste.
Interessant finde ich, dass sich schon Ulrike Meinhof, die Stiefmutter von Anja Röhl ab 1965, als diese 10 Jahre alt war, sehr intensiv mit den Fürsorgeheimen, der schwarzen Pädagogik und dem nationalsozialistischen Einfluss auf die Heime beschäftigte. Offenbar führt Anja Röhl jetzt dieses Erbe, Vermächtnis weiter.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrike_Meinhof#Heimkampagne
In der DDR wurden Kinder zumindest nicht wie Päckchen verschickt.
Und natürlich hatte auch Putin, äh, Stalin, eine gewisse Mitschuld an den im Westen praktizierten "Verschickungen", denn durch die Blockade Berlins kam es zu der Aktion "Ein Platz an der Sonne" für Westberliner Kinder, die dadurch freie Westluft atmen durften. Daraus wurde eine erfolgreiche Fernsehlotterie, die bis heute existiert, allerdings unter anderem Namen.
Andererseits wurde, diese Kommunisten tarnen sich ja gerne, über die 1955 in Düsseldorf gegründete „Zentrale Arbeitsgemeinschaft (ZAG) – Frohe Ferien für alle Kinder“, bis 1961 der Aufenthalt von westdeutschen Kindern in DDR-Ferienlagern organisiert. Er endete mit dem Schließen der DDR-Grenzen 1961 und dem Verbot der Ferienaktionen durch die Regierung der BRD – die Aktionen galten Ende der 1950er Jahre als kommunistische Unterwanderung der Bundesrepublik durch die SED. In den Jahren der politischen Entspannung nach 1970 waren Mitglieder der Naturfreundejugend und Kinder, der Eltern der DKP angehörten, erneut Gäste in den Ferienlagern.
Erwarten Sie sich wirklich etwas davon? Der Satz aus dem Text sollte doch alle Illusionen nehmen.
"Sie betont, dass die Forschung erst am Anfang stehe und die Verschickungsverhältnisse in der DDR noch keineswegs berücksichtigt sind."
Es müsste allerdings noch Wessis geben, die in DDR-Kinderferienlagern waren. Lt. Wikipedia waren es mehrere 10000. Der dortige Artikel zu Betriebsferienlagern zeigt relativ propagandafrei die nackten Zahlen. 1983 waren 800000 Kinder in einer solchen Einrichtung. Die Betriebe waren gesetzlich verpflichtet sie zu unterhalten. Der Beitrag der Eltern für 2 - 3 Wochen betrug 10 - 20 Mark. Da die Mitarbeiter zum Teil aus den Betrieben kamen und sonst das Jahr über mit den Eltern arbeiteten, wären die oben beschriebenen Verhältnisse kaum geheim zu halten gewesen.
Wie allerdings so etwas in der heutigen Presse dargestellt werden würde, kann man sich exemplarisch in diesem Spiegel-Artikel ansehen. Aber selbst die wohlwollenste Beschreibung würde das Bild über den Osten im Westen nicht verändern. Beim Sieger war alles besser und wenn etwas im Westen schlecht war, dann war es im Osten noch viel schlechter.
Ich war zu DDR-Zeiten mehrere Mal in einem katholischen Kinderheim, weil meine Mutter schwerkrank war. Darüber habe ich immer mal geschrieben. Ich habe dort - außer der schon von Wolftraut geschilderten Verlorenheit und dem Heimweh - nichts Bösartiges erlebt.
Aber ich erinnere mich, dass ich - als meine Mutter halbwegs wieder gesund war, aber noch nicht in der Lage. uns beide Kinder zu betreuen- immer sonntags auf der Bodentreppe hockte und nach meiner Mutter Ausschau hielt, die mich Sonntags besuchte. Sie blickte dann nach oben und winkte.
https://www.freitag.de/autoren/magda/zum-beispiel-leipzig-engelsdorf
https://www.freitag.de/autoren/magda/kinderheime-in-ost-und-west
Ein sehr, sehr bemerkenswerter Link. Interessant auch, dass die Stellungnahme der Landesbeauftragten dann als Leserbrief und nicht gleichberechtigt als Artikel veröffentlicht wurde.
https://www.landesbeauftragter.de/aktuelles/presse/details/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=618&cHash=8f00e7a9b5bbebc5797b1e28e946e7d7
"/ 02. Juli 2019 // 11:00 Uhr Stellungnahme der Landesbeauftragten zum FAZ-Beitrag „Gestohlene Kinder“ vom 24.06.2019 In „Briefe an die Herausgeber“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Juli 2019
Die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur Anne Drescher hat zu dem Beitrag „Gestohlene Kinder“, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24.06.2019, Stellung genommen. Veröffentlicht wurde die Stellungnahme in der Rubrik „Briefe an die Herausgeber“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Juli 2019.
Den Wortlaut der Stellungnahme der Landesbeauftragten lesen Sie hier:
Am 24.06.2019 informierte ein Artikel in der FAZ unter der Überschrift „Gestohlene Kinder“ über eine gemeinsame Gesetzesinitiative von CDU/CSU und SPD, über die schon an diesem Freitag im Bundestag beraten werden soll.
Ärgerlich ist, dass auch in einer Zeitung wie der FAZ dem Text Mutmaßungen und Gerüchte einleitend als Erklärung vorangestellt werden.
Es gibt bis heute keinen einzigen belegten Fall, in dem in der DDR ein Kind für tot erklärt wurde, um es anschließend einer anderen Familie zur Adoption zu übergeben. Sie stellen in dem Artikel fest: „Bekannt ist, dass das SED-Regime missliebigen Eltern die Kinder entzog, um es verdienten Genossen möglich zu machen, diese zu adoptieren.“ Haben Sie dafür einen Beleg? Nur in dem man derartige Behauptungen häufig genug wiederholt, wird daraus keine gängige Praxis.
Eine der im gemeinsamen Antrag formulierten Forderungen zu einer Studie zum Thema „Adoptionen“ (nicht Zwangsadoptionen!) kann durchaus bejaht werden, ebenso, dass über Definitionen zu den Sachverhalten in diesem Themenrahmen nachgedacht werden muss. Gerade weil die Anfragen betroffener Familien im Raum stehen, sollte der Sache auf den Grund gegangen werden. Zum Thema DNA-Datenbank haben Experten zu Recht darauf verwiesen, wie problematisch aus datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten eine DNA-Datenbank ist. Von argentinischen Verhältnissen sind wir Lichtjahre entfernt. Eine DNA-Datenbank bringt keine Erkenntnisse für die Eltern, die ein frühverstorbenes Kind beklagen und auch den Eltern, die ihre Kinder zur Adoption freigegeben haben, ermöglicht es keine neuen Erkenntnisse.
Wir beraten und begleiten seit vielen Jahren betroffene Familien in diesen Fragen. Die angebotene Hilfe kann und muss sehr individuell sein. Wir suchen eine Balance zwischen der sachlichen Ebene der Aufklärung und dem emotionalen Umgang. Alle Eltern, die auf der Suche sind, sowohl zum Thema Adoptionen, als auch bei den frühverstorbenen Kindern, haben die Möglichkeit, sich an die Landesbeauftragten und die zuständigen Adoptionsstellen zu wenden. Dezentral und individuell! Hier erfahren sie Hilfe und Aufklärung. Eine zentrale Clearingstelle und weitere Forderungen sind unangebrachter Aktionismus und Geldverschwendung.
Anne DrescherLandesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur"
Es ist wohl wahr, als Keule sollte das alles niemals genutzt werden. Von keiner Seite. Dazu ist das gesamte Geschehen auch in diesem Fall viel zu dramatisch und tragisch (und eigentlich kriminell) gewesen. Nur, siehe den zitierten Text, es wird eben immer und immer wieder gemacht.
Und ich finde es ja sehr bemerkenswert, dass die Berliner Zeitung seit sie im Besitz der Friedrichs ist, endlich so nach und nach eine Wahrheit zu DDR-Verhältnissen inklusive Diskussionen findet, die endlich "irgendwie" meinen Erfahrungen (bei allen Ungenauigkeiten der Erinnerung) nahe kommen. Ich wollte mir diese damaligen Verhältnisse keinesfalls schönreden. Der Gefahr bin ich mir sehr bewusst. Nur u.v.a. zweimal zwei wunderbare Ferienwochen in Glowe auf Rügen (Jeder Doowe einmal im Leben nach Glowe!) sind nicht wegzureden. Kinderglück wie es öfter stattfinden sollte. Heimweh, das ja und immer mal wieder. Da half dann auch nicht das gelegentliche abendliche Geknuddel der betreuenden Pädagogikstudentin aus Halle, in die wir (10 Jahre alt) natürlich alle "verliebt" waren. Ob meine Erinnerungen vielleicht doch zu rosig ausfallen? Ich denke, eher nicht.
Aber zu den Fakten gehört allemal, dass in der DDR das Prügelverbot in Schulen per Gesetz ab 1949 galt. So habe ich dann die Praxis auch erlebt. Denke, das kam daher, dass die DDR-Führung in ihren Kindheiten durchaus eigene Erfahrungen damit gemacht hatten.
Mir ist dann nach 1990 mal Lloyd deMause begegnet. Da ist schon der Wiki-Eintrag hochinteressant. Eins seiner Bücher:"Hört ihr die Kinder weinen?" Das Kinderelend war immer riesengroß. Und sollte heute ein wenig kleiner sein. Schaut man sich allerdings die ganze Welt mit ihrem Hunger, dem Missbrauch und den Scheißkriegen an...
immer wieder mal die hier? Gekauft 1974 im Antiquariat in der Budapester Vaci uca für einhundert Mark. Und durch den Zoll bekommen:
https://www.youtube.com/watch?v=2vnYKRacKQc
Aber alle Aufklärung braucht eben auch Zeit und, wie man immer wieder festellen muss, mehr als man so denkt und hofft. Wie jede Heilung.
Die Stellungnahme von Anne Drescher finde ich sehr gut. Es gab auch mal eine Doktorarbeit zu dem Thema" Zwangsadoptionen", die - nachdem das Resultat nicht so richtig dramatisch war, kaum noch Erwähnung fand.
Ja, es ist so ähnlich wie mit den Suiziden in der DDR. Das war Anfang der 90er auch so eine Keule zur Delegitimierung der DDR (siehe Klaus Kinkel). Und dann entstand eine Doktorarbeit von Udo Grashoff "In einem Anfall von Depression ... Selbsttötungen in der DDR". Und da er offensichtlich sehr solide gearbeitet hatte und eben das DDR-Staatssystem NICHT als hauptursächlich herausgearbeitet hatte, verschwand dieser unberechtigte, aber eben politisch-medial sehr erwünschte Vorwurf aus den Medien. Aber ein erheblicher Schaden war eben doch angerichtet worden. Auch so ein Mosaikteilchen dieser ominösen Wiedervereinigung.
"Der Satz aus dem Text sollte doch alle Illusionen nehmen." - Was genau soll denn an dem nüchternen und ergebnisoffenen Satz so problematisch sein?
Im übrigen: Ferienlager (Aufenthaltsdauer max. 14 Tage, für Kinder so ab 10 Jahren ungefähr) sind etwas anderes als die Sache mit den "Kindergenesungs-" oder "-kur-" oder "-erholungsheimen" - Aufenthaltsdauer 4-6 Wochen oder länger und für Kinder schon ab 4 Jahren, oft noch deutlich jünger.
Das hier besprochene Buch von Röhl hat letzteres zum Thema. (Es gibt noch ein eben erschienenes: Hilke Lorenz, Die Akte Verschickungskinder) Ein 4-jähriges Kind, das für viele Wochen von seinen Eltern entfernt wird, leidet immer schwerst - egal, ob das in einem Privatkurheim auf Norderney oder in einem staatlichen Kinderkurheim auf Rügen stattfindet.
Solche Themen, wenn sie an Ost-Beispielen abgehandelt werden, werden natürlich seit 30 Jahren (oder länger) zur Befestigung eines, ich sag mal präferierten DDR-Bilds benutzt, logisch. Aber die spiegelverkehrte Reaktion hilft auch nicht weiter.
Wichtiges Buch, guter Beitrag.
Kleine Kritik:
Frau Senfft schreibt am Ende, dass die beschriebene "Schwarze Pädagogig" eine bis heute witerwirkende NS-Hinterlassenschaft wäre/sei.
Das ist (nur halbwegs) richtig, klammert hier aber die sehr viel älteren Wurzeln und Traditionen einer sadistischen,kinderfeindlichen "Erziehung" (nicht nur in Deutschland) aus.
Über die Rolle der Kirche(n) (siehe u.a. auch bei Tilman Moser/"Gottesvergiftung") und vermeintlich "aufklärerischer" Erziehungs-Fetischisten wie u.a. Rousseau, Benthem oder wie bei uns einem Moritz Schreber hat (nicht nur) Katharina Rutschky ausführlich berichtet.
Den im Text erwähnten 8-12 Mio "Verschickungskindern", die "Erziehungsunbill" wenigstens nur zeitlich sehr begrenzt aushalten mussten, gesellten sich aber auch Hunderttausende Kinder in den "normalen",, obligatorischen Heimem hinzu, die dort auf Jahre hinweg den gnadenlos den Praktiken und Obsessionen der sie bewachenden Panoptikon-Aufpasser ausgeliefert waren.
Danke für die Rezension. In der besten aller möglichen Welten wäre das ein schnelles, schmerzliches Erschrecken wie vor einer erschreckenden ausgestorbenen Spezies. In unserer Welt ist es eine Scherbe des Spiegels mehr, in dem wir uns erkennen könnten, wären wir gewillt, ihn wieder zusammenzusetzen. Die Scherbe, die gestern veröffentlicht wurde: der vielfache Mörder vor Gericht, der als Kindersoldat lernte ein Mensch zu werden.
Tatsache, daß meinersich Subjektivität –auch bei mir selbst- zu großem Teil als Handicap erachtet und in gehegter Form verabscheut, liegt auch im Thema dieses Blogs und seines erfrischenden Klartextes begründet.
Dieser Dreck, schlicht Etwas anzunehmen, und dann ohne gewissenhafte Überprüfung danach zu Leben … es ist kriminell. Bis Anfang 19. Jahrhunderts (oder war es 20. … die Quelle ist so lange her …) ging man davon aus, daß das Nervensystem bei Säuglingen nicht entwickelt sei, und operierte sie halt ohne Anästhesie. Man muß es sich –oder besser nicht- vorstellen, wie die Winzlinge unübersehbare Anzeichen zum Fehlschluß gaben, und die Operateure weitermachten, da sie es ‚doch‘ besser ‚wußten‘.
Ohne Eigenheiten der NS-Zeit und deren Fortsätze schmälern zu wollen, sei daran erinnert, daß auch sonst bedenkliche Pädagogik existiert(e). Wir erinnern uns etwa rumänischer Waisenhäuser, etc.
Meinersich war bis zum 5. Lebensjahr in der DDR. Merkwürdigkeiten, wie gemeinsames auf den Topf setzen zu vorbestimmter Tageszeit in der Krippe, sowie unbedingter Mittagsschlaf, mit dem Wirbelwind ich überhaupt nichts anzufangen wußte, sind mir in Erinnerung, doch aus späterem Kindergarten ausnahmslos nette und gleich auch noch hübsche Gärtnerinnen in Erinnerung. (Ihnen heute noch für Langmut und Freundlichkeit verbunden.)
Im Gedächtnis auch, was wissenschaftlich gar nicht geht. Geburt nach vorbestimmtem Termin.
Nahezu Ersticken in Geburtskanal, schließlich Herausziehen mit Geburtszange (habe noch kleine Kante am Hinterkopf) und höchst unangenehm kaltes Abwaschen mit anschließender Verfrachtung in Schlafvorrichtung fern der Mutter.
Sie wurde dabei geradezu zerrissen, was ihr einschließlich Getrennthaltung wohl auch relative Schwierigkeiten bereitete, sich mit dem Neuling anzufreunden.
Eine Art Verschickungsheim oder Ferienlager dann zwischen 5. und 6. Lebensjahr am Mittelmeer. Ein Traum bei bestem Wohlbehalt mit intensiven Kinderfreundschaften und wunderbaren Betreuern. Doch restliche 9 Monate jenes Jahres in Heim selber Region dann nicht ganz so erquicklich.
Und als irgendwann ein Fenster offen stand, durch welches es sich aufs Dach eines Anbaus steigen ließ, und meiner sich direkt an den Rand stellte, um hinunter zu schauen, schubste ein Kind von hinten. Der Boden raste auf mich zu, und es gab Aufwachen im Krankenhaus und damalige Spritzen aus Stahl und Glas, die sich so klobig ausnahmen wie sie schmerzten.
Niemandem Böses wollend, doch hyperaktiv galt Letzteres seinerzeit als Ungezogenheit und Renitenz. Kam man wieder in D. nach schulischer Ohrfeige Heim, bekundete Mutter Lehrern, ganz richtig verfahren zu sein. Wie zu Hause halt, wo auch schon mal hölzerne Kleiderbügel brachen. (Ich weiß, daß sie die Jahre bereut hat.)
Herr zu werden (, daß er vor allem pragmatische Klappe hielte) war dem Bengel dennoch nicht, also gings mit 12 in den Balkan. Nicht in wahlweise Pflegefamilie sondern ins Waisenhaus, weil Muttern es für bessere Charakterschule hielt. In dreieinhalb Jahren war ich nur Wochen in der Schule. Zu Beginn vielleicht zwei, und über die restliche Zeit verteilt vielleicht noch einmal so viel. Zuviel Disziplin.
Schlängelte morgendlicher Aufmarsch dorthin sich die Straße entlang, verdrückte sich meinermich irgendwo hinter Ecken, und verschwand im Wald. Freundete mich mit altem Mann an, welcher dort seine Schafe austrieb. Das war viel interessanter.
(Keine Ahnung, wie später zurück in Deutschland –nach Rückversetzung- einigermaßen Schule überstanden, ja nicht einmal, woher alphabetische Reihenfolge und Grammatik einer Sprache kamen, welche zweimal neu zu erlernen war, aber irgendwie fügte es sich. -Ähnlich wie zuvor mit Sprache auf dem Balkan, welche nach 4 Monaten flutschte wie die, der einheimischen Kids.)
Nur gegen Kohldampf war wenig Kraut gewachsen. Der Staat vernachlässigte uns keineswegs. Doch von hereingetragenen Rinderhälften, Butter etc. war in dünnen Suppen kaum mehr als Knochen und Sehnen zu sehen.
Nach meinem Weggang bemerkten die Kinder einen Zusammenhang zwischen Hunger und fetten Küchenfrauen, welche sich jeden Abend mit schweren Taschen vom Hof machten.
Pädagogisch wurde meiner Eines nur einmal so vom Direktor –welcher meine Eltern beleidigt hatte, die er gar nicht kannte- verprügelt, daß ich im Fluchtversuch waagerecht festklammernd im Türrahmen hing, währen er auf mich einschlug. Ansonsten wurde das Züchtigen eher den Insassen überlassen. Was mich selten traf, der altersmäßig Kleiner, unter bis zu über 20jährigen so dreist pokerte, daß er deren Rang teilte.
Zurück in Deutschland waren die meisten Internatsaufenthalte kurz. Einer sogar nur einen Tag lang, welcher mit der Kante einer Türklinke in meinem Kopf endete.
Dann dachte Mutter ein schweizer Ding an, in dem kurzgeschoren Uniformen getragen wurden, Kaugummikauen untersagt war, etc.; besann sich jedoch Umstands, daß einer wie ich auch dort kaum älter würde.
Also wurde es ein sich liberalisierendes Schloß in heimischen Landen, in dem anfänglich teils noch Nazis herrschten, welche einem ob nicht weißem Teints im Waschraum auf den Rücken schlugen und vermeinten: „Das ist noch nicht sauber!“ (Das kostete den Konrektor den Job, nachdem energische Eltern eines Mitschülers davon erfuhren.) Oder ein anderer als Musiklehrer einen derart stressig mit Blockflöte vortreten ließ, daß ich nie wieder Noten zu lernen vermochte (Tabulatur geht zur Not auch).
Die antiquirierten Bärbeißer verschwanden und das Leben dort wurde modern und gut. Eine Schande auch, wenn es in jener Zeit von Black Sabbath, Led Zeppelin & Co. anders gekommen wäre.
Doch Mißbrauch und pathologische Obhut sind mir auf der Odyssee begegnet, und Bewußtsein dazu vorhanden, was es bedeutet haben muß, dem und Schlimmerem jahrelang ausgesetzt gewesen zu sein. Man möchte jene Menschen, welche das erlebt haben, in den Arm nehmen, und wieder gut machen können, was an ihnen unverzeihlich krank ausgelassen worden ist.
Später kamen Studien auf, die untersuchten, daß so mancher Pädagoge den Beruf ergriffen hat(te), um seine sadistischen Neigungen ausleben zu können. Wie im Artikel schon erwähnt, oft von Menschen, welche selbst entsprechend aufgezogen wurden. Denn das ist der Kreislauf.
‚Rehabilitierende‘ / tröstend - aufbauende Empfindung bei Gewalt, welche diesmal nicht Einem selbst, sondern ‚erlösend‘ Dritten widerfährt. Auch bei Tierquälerei ausgelieferten Geschöpfs derselbe Hintergrund.
So erbärmlich ist das.
Zuvorderst in Asien, dann in Afrika und Südeuropa sind –mit einigen regionalen und konfessionellen Ausnahmen- die Landschaften voll mit dieser zweibeinigen Erbärmlichkeit.
Da wird verbrochen, schlicht, weil man es kann.
Und noch bei uns sind sich die Allerwenigsten bewußt, in welcher Quantität und Intensität Dinge hinter Toren und Türen vor sich gehen. Sonst hätten die Menschen längst Führerschein für anvertrautes Leben, ob des Kinds oder Tieres eingefordert.
Apropos: Wann endlich kommen obligatorische Webcams für Ställe und vor allem Schlachthäuser?
Diesen Satz habe ich ganz bewusst im Kontext Ihres Kommentars gewählt. Es ist diese Servilität, die die Argumente aus dem Osten sofort in eine schwächere Position bringt. Sie argumentieren nicht ergebnisoffen, sondern haben bereits Positionen übernommen. Damit sind in der Diskussion Pflöcke eingeschlagen, die erst einmal festsitzen. In den 30 Jahren nach der Wende ist das ja nicht der erste Sytemvergleich, der dann immer angestellt wird, egal ob das noch sinnvoll ist oder nicht. "beating a dead horse" nennt man das wohl neudeutsch. Kann das Leid von Betroffenen wie in diesem Fall, genau wie die Freuden der Beteiligten in anderen Fällen nicht wirklich einmal unabhängig von einem Systemvergleich untersucht werden?
Servilität, ach Quatsch. Immer diese Reflexe. Es geht hier um ein Buch über West-Kinderkurheime. Über dasselbe Thema im Osten wird nur gesagt, dass es nicht ähnlich gründlich und sachlich bisher aufgearbeitet wurde. Skepsis ist immer angebracht, aus Erfahrung. Aber genau weiß man's erst, wenn's vorliegt.
Kinder zu verschicken, in Heimen unterzubringen, in Klosterschulen oder Internate zu stecken, hat immer etwas sehr schwieriges, um nicht zu sagen grausames. Die Geschichte dieser Institutionen ist gepflastert mit z. T. ausgesprochen furchtbaren Geschichten. Die Waldorfschule ist da nur ein Beispiel unter vielen.
Dass es so etwas wie Verschickungskinder gibt- was für ein Name!- wusste ich gar nicht. Der erste Gedanke, der mir in diesem Zusammenhang kam, sind die „Verdingkinder“ in der Schweiz. Ein nach wie vor noch unaufgearbeitetes Kapitel in der schweizer Geschichte. Auch Zigeunerkinder wurden aus ihren Familien gerissen und „fremdplatziert“.
Als ausgesprochenes Problemkind aus gutem Hause (was auch immer das sein soll) wurde ich, nach einer einer in meiner Erinnerung unendlich scheinenden Phase voller Probleme oder besser: einer veritablen Sonderschulkarriere letztendlich für drei Jahre in ein Internat abgeschoben. Als Arbeiterkind wäre ich freilich in einem Heim gelandet. Internate sind der Ort, an dem „gut situierte“ Familien ihre Problemkinder hin bringen. Misshandlungen gab es keine. Seltsam scheinende Vorgänge hingegen schon. Ich fühlte mich einsam und verlassen dort. Jedes Jahr habe ich gehofft, wieder nachhause zurück zu können. Das Internat ist der Ort, an dem man lernt, dagegen zu sein.
Verhaltensauffällige Kinder (oder nicht der sozialen Norm, bzw. gesellschaftlichen Konventionen entsprechende Kinder, „Saugoofen“ also, wie es schweizerdeutsch heisst) wurden bis weit in die 1980er-Jahre hinein entweder in Sonderklassen untergebracht oder, je nach Schicht, gleich ganz zum Verschwinden gebracht, eine andere Ausdrucksweise will mir gar nicht erst in den Sinn kommen. Andererseits muss man in diesem Zusammenhang vielleicht auch erwähnen, dass die medizinische Forschung und die Pädagogik damals bei vielen heute bekannten Diagnosen noch in den Kinderschuhen gesteckt hat. In meinem Falle AD(H)S. Die entscheidenden Fortschritte kamen hier erst in den 1980er und 1990er-Jahren. Ritalin wurde von Novartis zwar schon in den 1950ern auf den Markt gebracht, aber in den Siebzigern, der Zeit meiner Problemkindheit also, gab es noch nicht genügend Langzeitstudien zu Ritalin. Die heutigen Schulsysteme sind viel besser in der Lage, „verhaltensauffällige“ Kinder in den geregelten Schulbetrieb zurück zu führen. Ich denke, das ist der ganz grosse Unterschied zu früheren Zeiten.
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Sehr gerne gelesen.
Danke ;-) Bei dir war ja auch etwas im Busch, oder?
Scheisskindheit und Scheissjugend. Dahin möchte ich nie mehr zurück. Aber ich lebe noch- und wie! Was statistisch betrachtet eigentlich ein Wunder ist.
Viel was ich frueher gerne anderen angekreidet habe und hatte habe ich mir selber zuzuschreiben, Punkt und Ende.
Immerhin mit 25 von 17 Uhr bis Morgens um 4 Uhr gejobbt um von 8 bis 13 Uhr die mittlere Reife nachzuholen, eigene Wohnung, Strom, Heizung und der ganze Trullala, vorher war nur Scheisse da. Eigene Schuld und keine Andera. Ich haette es bequemer haben koennen, wollte es aber scheinbar nicht, also durch die harte Schule...
Auch durften Täterinnen die keine Frauen sein, es müssen Nazi-Frauen sein. Diesen ideologischen Schlenker hätte man nicht machen müssen, da er die Tatsache verbiegt, dass alle Menschen das Potential zum Sadismus in sich haben.
In allen Nischen, die der Öffentlichkeit halbwegs entzogen sind, gibt es (sexualisierte) Gewalt. Kirchen, Schulen, Sportvereine, Ferienlager, Campingplätze, Sekten, Psychotherapien, Dörfer, Famiien, Heime für Kinde, Alte und Behinderte und Arbeitsplätze dieser und jener Art sind potentielle Orte der Gewalt.
... die Täterinnen keine Frauen sein ...
Entschuldige bitte, aber was die BRD betrifft bist Du vollkommen ahnunglos. Was Du seit 1990 kennengelernt zu haben glaubst ist durch die Annektion der Ostzone verdorben und in wesentlichen Teilen entkernt.
Verstehe ich jetzt nicht, was Sie meinen. Der Westen durch die Übernahme des Ostens "ausgeblutet"?
verdienstvoll. Und lange fällig. Aber im letzten Satz schimmert noch etwas aus der Erziehungspraxis der Zeit durch: "Pflichtlektüre". Gibt es so etwas?
Die Rezension weckt Interesse an dem Buch. Ich habe von Anja Röhl das Buch "Die Frau meines Vaters" gelesen, in der sie ihre Erfahrungen mit ihrer Stiefmutter Ulrike Meinhof verarbeitete. So frage ich mich, ob ihr jüngstes Buch eine Fortsetzung von Bambule ist, mit der Ulrike Meinhof in den 1960er Jahren die Unterdrückung in westdeutschen Jugendheimen zum gesellschaftlichen Thema machte.
Ich habe absichtlich einige Tage gewartet, bevor ich hier meine historische Zeugenaussage aufschreibe.
Zunächst vorab: Verschickungskinder hat uns niemand genannt, als ich Mitte der 1970er 2 x auf einer solchen "Kinderkur" (so wurde die genannt) in einem Kinderkurheim an der Nordsee war.
Die "Kinderlandverschickung" vor und im 2. Weltkrieg war in meiner Familie gut bekannt; die Großeltern sowohl väter- als auch mütterlicherseits haten sie selber erlebt. Mit diesen Großeltern beider Familienzweige wurde natürlich anlässlich meiner "Kinderkur" darüber geredet, aber niemand meinte, dass die "Kinderkur" an der Nordsee in Wirklichkeit eine "Verschickung" sein könnte.
Die "Kinderlandverschickung", wie sie meine Großeltern und Eltern erlebten:
-- Einiges steht in dem Wikipedia-Artikel "Kinderlandverschickung".
-- Meine eine Oma war vor dem Krieg, aus einem bürgerlichen Elternhaus in Detmold, nach Lettland auf einen Bauernhof verschickt worden, und noch im Alter fand sie das so erstaunlich, dass sie es immer mal wieder erwähnte: Es gab gut zu essen (während der Weltwirtschaftskrise) und sie war korrekt behandelt worden (dieser Bauernhof der damaligen deutschen Minderheit in Lettland betrieb die Kindererholung im größeren Maßstab).
-- In der anderen Familie in Kassel, da es im 2. Weltkrieg stark bombardiert wurde, sind komplette Schulklassen mit ihren Lehrern über Jahre in hessische Dörfer ausgelagert worden. Im diesem Fall war über 100km entfernt in Gladenbach eine Schul-, Küchen- und Schlaf-Baracke gebaut worden, die Bauern lieferten Nahrungsmittel, und die Kinder waren immerhin ihrer "Kellerkinder"-Existenz in der fast täglich brennenden Stadt entkommen.
Meine Familie war also gut informiert: Niemand meinte, dass meine "Kinderkur" in Wirklichkeit eine "Verschickung" sei. (Zumal mein Großvater in einem der damals noch existierenden "Kinderheime" arbeitete - die, auch dank Ulrike Meinhof und den 1968ern, heute zum Glück alle geschlossen sind!!)
Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie zu verschiedenen Zeiten mit Kindern umgegangen wurde!
Heute zeigt die Missachtung der Kinder im Corona-Ausnahmezustand, dass zur Selbstzufriedenheit gar kein Grund besteht: Die aktuelle Missachtung elementarer Kinderbedürfnisse ist eine Schande!
Mit der Kampagne bin ich so nicht einverstanden, weil ich als Kind sehr positive Erfahrungen mit der "Kinderkur" an der Nordsee gemacht habe: Tatsächlich bin ich dort vom Heuschnupfen geheilt worden - und zwar in der dafür entscheidenden Lebensphase: zu Beginn der Pubertät (zusammen mit nachfolgender Tröpfchen-Desensibilisierung)!! Ich hatte einen sehr klugen Kinder-/Hausarzt, der mir diese Kinderkur in 2 Sommern verschrieben hat.
Ich finde es traurig, dass es heute für ältere Kinder - mit schwerem Asthma und/oder aus armen Familien und Arbeiterfamilien - solche Heime nicht mehr gibt, sondern sie in Mutter-Kind Reha-Kliniken umgewandelt sind.
Das Heim auf einer Nordseeinsel - Sancta Maria auf Borkum - war Mitte der 1970er noch von Schwestern geführt - Franziskanerinnen, unterstützt von vielen jungen Erzieherinnen aus der Region vom Festland (Leer, Emden), die in gut bezahlten Saisonjobs auf der Insel interessante Berufserfahrungen sammeln konnten (z. B. die Beaufsichtigung der nackten Jungs, die nur einige Jahre jünger waren, unter der Sammeldusche). In 2 x 4 Wochen lernte ich das alles sehr gut kennen; als 13jähriger hätte ich Gewalterfahrungen bemerkt, wenn es sie gegeben hätte. Mehr als die Hälfte der Kinder kam aus "einfachen" Familien, viele aus dem Ruhrgebiet. Wir konnten 6 Wochen zusammen mit Gleichaltrigen einen Spitzen-Kinderurlaub verbringen! Alle hatten Atemwegserkrankungen, manche so schweres Asthma, dass nachts die Nachtschwester (das war Ordensschwester-Aufgabe) ihre Erstickungsanfälle begleiten musste und andere Kinder im Zimmer dann auch mal wach wurden.
Dieses Konzept entsprach genau der Absicht des Gründers und Stifters Carl Böddinghaus (selber ein Asthmatiker, ein einflussreicher Priester). Ich selbst kam aus keiner katholischen Gegend, meine Familie war aus der (evangelischen) Kirche ausgetreten; das Krankenkassen-finanzierte Heim war tatsächlich für alle offen, und ich lobe dafür als Atheist die Kirche, die hier tatsächlich den Armen und Beladenen geholfen hat!
Mit den heutigen Mutter-Kind-Heimen ist das Konzept und die Zielgruppe der Kinderkuren, entgegen den Absichten des Stifters, völlig verändert. Vor allem hat mit dem Umbau in Einzelzimmer heute nur noch ein Bruchteil der Kinder etwas davon: vielleicht 5 bis 10%? - Im Vergleich zu den vielen, die damals in großen Sammelschlafsälen untergebracht waren (ähnlich wie bei Pfadfindern oder anderen Jugendfahrten).
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Hier ist Kindern aus unterprivilegierten Familien etwas Elementares - der Spitzen-Kinderurlaub im heilenden Hochseeklima - auf Dauer weggenommen worden!
Die Kampagne "gegen die Verschickung" müsste das berücksichtigen und abwägen. Auch mir und meinen Eltern (aus der Mittelschicht) tat es sehr gut, dass ich 2 lange "Kurlaube" jenseits der Familie verbringen konnte, und vielleicht war das eine Nebenabsicht des klugen Kinderarztes gewesen, als er mir diese "Kinderkuren" verschrieb! Heute haben seine Nachfolger keine Möglichkeit mehr dazu.
Wer wirklich etwas für Kinder tun will, soll sich dafür einsetzen, dass solche Erholungsmöglichkeiten im Hochseeklima für größere Kinder und jüngere Teens in Gruppen wieder eröffnet werden! -- Also nicht für die Mütter, sondern für die asthmakranken oder schwer allergischen Kinder auch aus den unteren Schichten, die ja heutzutage noch viel seltener in den Urlaub fahren können als in der damaligen alten Bundesrepublik.