Was genau Angela Merkel unter großen Aufgaben versteht, ist nicht überliefert. Bekannt ist dagegen die Auffassung der Kanzlerin, „dass wir eine Große Koalition sind, um auch große Aufgaben für Deutschland zu meistern“. Die Sozialpolitik, ohnehin nicht gerade ihr Fachgebiet, kann sie damit nicht gemeint haben.
Das sei, lautet eine landläufige Meinung, nicht so schlimm, denn fürs Soziale gebe es ja, wie der Name schon sagt, die Sozialdemokraten. Tatsächlich hat die SPD die Zuständigkeit für so wichtige Reformbaustellen wie Mindestlohn und Rente, auf denen sie bereits kräftig zu wirken scheint.
Wer allerdings der gängigen Politlogik folgt, nach der eine SPD-Ministerin Andrea Nahles schon sozialdemokratische Politik garantie
Politik garantiert, der lässt sich Sand in die Augen streuen. Nach weniger als 100 Tagen Schwarz-Rot sind Schwerpunkte benannt beziehungsweise bereits gesetzt, und es zeigt sich: Mit der großen Aufgabe, die Sozialsysteme endlich einmal wirksam zu reformieren, hat die Große Koalition nichts am Hut.Es ist schon jetzt aus der Mode gekommen, die reale Politik dieser Regierung an den Zielen zu messen, die die beteiligten Parteien noch vor wenigen Monaten in ihre Wahlprogramme schrieben. Wer sich allerdings nicht zufriedengeben will mit dem, was uns die Großkoalitionäre als politisch möglich verkaufen, der sollte ruhig noch mal einen Blick auf die damaligen Versprechungen werfen, vor allem diejenigen der SPD. Nicht etwa, um Schlachten von gestern zu schlagen. Sondern weil die Sozialdemokraten selbst es damals waren, die ein paar Hinweise auf das bis heute Notwendige gaben. Übrigens weitgehend in Übereinstimmung mit Linken und Grünen.Schöne FassadeIm „Regierungsprogramm 2013 bis 2017“ sind die Reformen der Sozialsysteme kurz und klar zusammengefasst: „Alle Bürgerinnen und Bürger sollen durch die Bürgerversicherung unabhängig von ihrer Lebenslage oder ihrem Erwerbsstatus eine gute Kranken- und Pflegeversicherung haben. Wir wollen die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung für alle weiterentwickeln. (…) Mit der Ausweitung des Versichertenkreises in der gesetzlichen Rentenversicherung machen wir einen Schritt zu einer Erwerbstätigenversicherung, in der alle zu gleichen Bedingungen für das Alter und bei Erwerbsminderung versichert sind.“Das ist, wenn auch nur als Skizze, genau das Konzept, das die Sozialsysteme bräuchten. Der entscheidende Punkt ist lange bekannt: Die Absicherung gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut kann auf Dauer nicht mehr weitgehend aus Beiträgen auf klassische, „sozialversicherungspflichtige“ Einkommen finanziert werden. Das ergibt sich geradezu zwingend aus der wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte: Der Anteil fester Jobs ist zugunsten prekärer Beschäftigung oder (ebenfalls oft prekärer) selbständiger Arbeit stetig zurückgegangen; der Abstand zwischen Löhnen, auf die Beiträge bezahlt werden müssen, und beitragsfreien Kapitaleinkommen ist ebenso stetig gewachsen; nicht anders der Niedriglohnsektor mit Einkommen, die weder bei Arbeitslosigkeit noch im Alter für auskömmliche Sozialleistungen sorgen werden.Die Alternativen zur herkömmlichen Anbindung der Beiträge ans klassische Beschäftigungsverhältnis sind klar, und auch sie hat die SPD benannt: Entweder man erweitert die Finanzierungsgrundlage, indem man möglichst alle Einkommen in die Beitragspflicht einbezieht. Oder man entscheidet sich, alternativ beziehungsweise zusätzlich zur Bürgerversicherung, für eine Finanzierung aus Steuern. Denn auch die werden, wenn auch am oberen Ende allzu bescheiden, auf alle Einkommensarten erhoben. Für Letzteres hatte sich die SPD unter anderem bei der Mütterrente entschieden: „Zur Solidarrente zählt auch, familienbedingte Erwerbsverläufe in der Alterssicherung besser abzubilden. Wir wollen in angemessenem Umfang Berücksichtigungszeiten auch auf Eltern ausdehnen, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. (…) Die Kosten der Solidarrente finanzieren wir aus Steuermitteln.“Bürgerversicherung? Gerechtere Finanzierung der Sozialsysteme? Nichts ist geblieben von dem schönen Reformgebäude, außer ein paar unverbundenen Fertigteilen. Und zwar solchen, die nicht einmal geeignet sind, als tragende Säulen für einen künftigen Ausbau zu dienen. Geblieben sind jene Einzelteile, die die Koalitionsparteien für besonders geeignet hielten, die Fassade zu verzieren. Bei der Union war es vor allem die Mütterrente, also die Teilanpassung des Anspruchs älterer Frauen an das, was jüngeren Müttern gesetzlich zusteht. Darin steckt immerhin der Anspruch, eine Ungleichbehandlung zu mildern. Aber der entscheidende Dissens zwischen Union und SPD wurde klar zugunsten von CDU und CSU entschieden: Die Mütterrente wird nicht aus Steuern, sondern aus dem Beitragstopf finanziert.Das ist auch insofern kein Wunder, als die SPD ihr entscheidendes Argument in allen Gerechtigkeitsfragen an der Garderobe des Kanzleramts abgegeben hat: Dass nämlich die Steuereinnahmen von Vermögenden und Großverdienern erhöht werden müssten, wenn sozialer Ausgleich nicht nur im Rentensystem ausgewogen finanziert werden soll. Selbst wer der bei Sozialdemokraten und Medien so beliebten Meinung folgt, die Große Koalition sei alternativlos, wird an dieser Stelle zugeben müssen: Mit dem Sieg der Union in der Steuerfrage bricht die Idee einer umfassenden Sozialreform in sich zusammen. Ja, die Union hat die Wahl gewonnen und besaß jedes Recht, in solch zentralen Fragen zu bestimmen. Aber die Pflicht, sich dem zu beugen und trotzdem zu regieren, ergibt sich für die SPD daraus nicht.Das zweite Einzelteil ist der vorzeitige Ruhestand mit 63 nach 45 Beitragsjahren, mit dem es der SPD sogar gelungen ist, Kritik von rechts und links in gleichem Maße auf sich zu ziehen – von denjenigen, die bei jeder Leistungsverbesserung schreien (erwartbar), aber auch von denen, die nicht einsehen, dass ausgerechnet die Beschäftigten mit den glattesten Erwerbsbiografien und damit den ohnehin besseren Rentenerwartungen nun zusätzlich bedient werden (nachvollziehbar). Zumal, wenn für alle anderen die Rente mit 67 uneingeschränkt gelten soll.Einzelteil Nummer drei: der Mindestlohn, mit Recht ein Lieblingsprojekt der SPD. Sie trägt es mit Stolz und Freude wie ein riesiges Transparent vor sich her, hinter dem sich alles verbergen lässt, was Schwarz-Rot in der Sozialpolitik sträflich versäumt.Parität? Passé!Und das sind keineswegs nur die fragwürdigen Rentenbeschlüsse. Da ist zum Beispiel die Krankenversicherung. Zitat SPD-Wahlprogramm: „Arbeitgeber sollen wieder den gleichen Beitrag leisten wie Beschäftigte, die tatsächliche Parität muss wiederhergestellt werden.“ Ergebnis im Koalitionsvertrag: „Der allgemeine paritätisch finanzierte Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt, der Arbeitgeberanteil damit bei 7,3 Prozent gesetzlich festgeschrieben. Die gesetzlichen Krankenkassen erheben im Wettbewerb den kassenindividuellen Zusatzbeitrag zukünftig als prozentualen Satz vom beitragspflichtigen Einkommen.“ Auf Deutsch: Die Versicherten zahlen auch künftig mehr als die Arbeitgeber, und Steigerungen tragen sie allein. Parität? Passé.Und da ist, als letztes Beispiel, Hartz IV. Wer den Koalitionsvertrag liest, findet hierzu: nichts. Jedenfalls nichts, was auch nur im entferntesten nach einer finanziellen Besserstellung der Langzeitarbeitslosen aussieht, also nach einer Erhöhung der Sätze, um den Beziehern ein würdiges Leben zu ermöglichen. So gut wie niemand redet mehr davon, und man muss sich nicht wundern: Je höher der Anteil der Armen in einem Wahlkreis, desto niedriger ist tendenziell die Wahlbeteiligung. Noch mal auf Deutsch: Den unteren Rand der Gesellschaft hat auch die Sozialdemokratie inzwischen aufgegeben.Wie gesagt: Es ist eine Binsenweisheit, dass mit CDU und CSU nichts Besseres zu erreichen war. Nur: Mit „großen Aufgaben“ hat das nichts zu tun.
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