Das Unvorstellbare erzählen

Elie Wiesel Als Überlebender des Holocaust blieben die Gräueltaten der Nazis sein Thema – als Schriftsteller und als Wissenschaftler
Ausgabe 27/2016
Elie Wiesel (1928 - 2016)
Elie Wiesel (1928 - 2016)

Foto: Win McNamee/Getty Images

Im Alter von 87 Jahren ist nun Elie Wiesel verstorben – in einem Jahr, in dem ein früherer Wachmann des Konzentrationslagers Auschwitz von einem deutschen Gericht verurteilt wurde. Dieser Mann ist 94 Jahre alt. Der Tod von Elie Wiesel führt uns vor Augen, dass die Zahl der Menschen immer kleiner wird, die aus eigenem Erleben von den Verbrechen der Nationalsozialisten berichten können. Der Strafprozess gegen den Wachmann aus dem Todeslager ruft uns in Erinnerung, dass wir immer noch mit denen zusammenleben, die das Grauen jener Jahre verkörperten.

Es hat lange gedauert, bis die Opfer des Rassenwahns Gehör fanden bei den vielen, die anging, was sie zu erzählen hatten. Und es hat lange gedauert, bis die Schuldigen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst untertauchen konnten, sich in einer Gesellschaft wiederfanden, die sie aufspüren und ins Gefängnis bringen wollte. Beides ist zu erklären durch die Bedingungen der Zeitgenossenschaft. Als die meisten Deutschen zwar nicht zugaben aber doch wussten, dass sie es schuldhaft zumindest für normal gehalten hatten, was mit den Juden und anderen Verfolgten geschah, da wollten sie davon nichts hören. Nichts, als sie im Elend der Nachkriegszeit ums eigene Überleben kämpften, nichts, als sie im langen Wirtschaftswunder die Vergangenheit für abgetan hielten.

Der 1928 geborene Elie Wiesel hatte die Konzentrationslager von Auschwitz und Buchenwald als Heranwachsender überlebt. 1948, 20 Jahre alt, berichtete er für eine französische Zeitung von der Gründung des Staates Israel. 1958, im Alter von 30 Jahren, veröffentlichte er sein autobiografisches Buch Die Nacht, das zuerst in jiddischer Sprache erschien und 1962 in Deutschland herauskam. Das Erlebte blieb Wiesels Thema als Schriftsteller und als Wissenschaftler. 1986 erhielt er den Friedensnobelpreis auf Vorschlag des Deutschen Bundestages, 2014 das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik. Die Auszeichnungen, die er bekam, sind so zahlreich wie die Kontroversen, die er durchkämpfte. „Auschwitz“, hatte er einmal gesagt, „kann weder erklärt werden, noch kann man es sich vorstellen.“ Und weiter: „Der Holocaust steht außerhalb der Geschichte.“ Aber man muss davon erzählen, damit es gehört wird. Im Jahr 2000 sprach Wiesel in einer Gedenkstunde vor dem Bundestag.

Man kann aber nur davon erzählen, wenn man es selbst erlebt hat. Das hat Wiesel getan. Und dass er es nun nicht mehr tut, ist das, was die Welt über das hinaus, was beim Tod eines berühmten Mannes bemerkt wird, innehalten lässt. Elie Wiesel genoss als Schriftsteller und als Historiker großes Ansehen. Er war Professor an erstklassigen Universitäten und Mitglied wichtiger Kommissionen. Seine Mahnungen wurden gehört, so, als er anlässlich seines Besuches von Buchenwald 2009 an der Seite von Barack Obama sagte, die Welt habe nichts gelernt aus den Schrecken von Buchenwald: „Wie kann es sonst ein Darfur, ein Ruanda, ein Bosnien geben?“

Der Verlust, den gerade die Deutschen mit dem Tod Elie Wiesels erfahren, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Menschen, die als Bürger der Bundesrepublik oder als Emigranten, die im Ausland geblieben sind und jetzt in hohem Alter stehen, von sich und ihren Leiden erzählen könnten – und das seit geraumer Zeit auch tun, oft auf Einladung von Schulen. Das ist keine Konkurrenz zum Geschichtsunterricht, auch keine bloße Ergänzung. Wer da aus jener Zeit erzählt, vermittelt das Bewusstsein von dem beschwörenden Diktum: „Du musst es erlebt haben!“ Wenn du es verstehen willst. Das können die Zuhörer nicht. Aber sie können ergriffen werden von dem, was da ausgesprochen wird von jemandem, der es erlebt hat. Und zutiefst die Mahnung spüren: Das darf niemand mehr erleben müssen.

Der Autor und Journalist Jürgen Busche schreibt in seiner Kolumne Unter der Woche regelmäßig über Politik und Gesellschaft

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