Der Autor wolle mit einer "Retro-Rhetorik" wie Oskar Lafontaine zurück in die heile Welt der siebziger Jahre, hatte im Freitag 29/07 der ehemalige Juso-Vorsitzende Benjamin Mikfeld gegen einen Freitag-Artikel von Albrecht Müller (Die drei Buchstaben einfach geklaut/Ausgabe 26/07) polemisiert. Nur sei der "fordistisch wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus" jener Jahre nicht fähig gewesen, für eine neue Phase ökonomischer Prosperität zu sorgen. Wenn sich die wirtschaftspolitischen Rezepte damals als nicht hinreichend erwiesen hätten, warum sollten sie dann heute uneingeschränkt gültig sein?
Die Wiederauferstehung einer "vergangenheitsfixierten Zombie-Linken", wie sie Müller und Lafontaine verkörperten - so Mikfeld - sei nicht "die Lösung der Krise der Linken in Deutschland, sondern ihr Ausdruck". Eine zukunftsfähige Linke müsse sich stattdessen auf den heutigen Kapitalismus mit seinen Fehlern und Vorzügen beziehen, sie dürfte sich nicht allein Verteilungsfragen widmen, sondern ebenso der Entfaltung der Produktivkräfte sowie einer "angebotsorientierte(n) Wachstums- und Innovationsstrategie".
Wer nach einer fortschrittlichen politischen Alternative zur herrschenden Mehrheit sucht, richtet sein Auge zwangsläufig auch auf die Linke in der SPD. Der Freitag-Beitrag von Benjamin Mikfeld, der sich als Vertreter dieser Linken versteht, lässt freilich die ohnehin schwache Hoffnung weiter schwinden. Der Autor bedient sich fast durchgehend der Denkmuster und Parolen, die wir von den Vertretern der herrschenden Lehre kennen: Wer die Reformen kritisiert, ist "vergangenheitsfixiert", ein "Zombie" eben; die Keynesianer seien in den Siebzigern gescheitert, wir seien national nicht mehr handlungsfähig. Die Linke konzentriere sich auf Verteilungsfragen - Globalisierung und Demografie erforderten aber den Umbau des Sozialstaats und so weiter.
Damit bestätigt Benjamin Mikfeld, was ich im Freitag 26/07 als Kernproblem der SPD diagnostiziert hatte: Die Partei wird mit Recht nicht mehr als eigenständig denkende Kraft wahrgenommen. Nur geht Mikfeld auf dieses Kernproblem nicht ein, sondern verteilt statt dessen eifrig Etiketten. Er unterstellt mir Ansichten, die ich gar nicht teile, und schlägt dennoch munter darauf ein. Er polemisiert gegen einzelne politische Vorstellungen und gesteht im nächsten Moment, auch er sei dieser Meinung. Was soll man damit anfangen?
Versuchen wir, in diesem, wie ich meine, ziemlich wirren Text die Kernaussagen herauszuschälen. Ich konzentriere mich auf solche Komplexe, die jenseits persönlicher Schmähungen von allgemeinem Interesse sein könnten.
Pubertäre Aggression gegen die 70er
Mikfeld meint, die Linke dürfe "sich nicht allein auf Verteilungsfragen beschränken, sondern müsse die Entfaltung der Produktivkräfte zum Thema machen". Das ist die gängige neoliberale und konservative Sprachregelung: Die Linke wolle nur verteilen, es gebe aber nichts mehr zu verteilen.
Solche Sprüche transportieren zum einen eine Abwertung des immer dringlicher werdenden Problems der ungerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen und damit auch der Chancen im Leben. Zum andern ist der Vorwurf Mikfelds abwegig, ja schon lächerlich falsch. Der Mann lebt jenseits der Realität. Ich sehe zum Beispiel unter den mir nahe stehenden Ökonomen keinen, auf den die Behauptung Mikfelds zuträfe. Alle kümmern sich auch um "die Entfaltung der Produktivkräfte". Wenn ich mir zum Beispiel Sorgen mache wegen der Verblödung, die das kommerzialisierte Fernsehen anrichtet, dann macht sich Mikfeld darüber lustig. Augenscheinlich erkennt er die negative volkswirtschaftliche Bedeutung dieser von Kohl ab 1982 betriebenen Entwicklung überhaupt nicht. Der Abteilungsleiter für Kommunikation beim SPD-Parteivorstand hat offenbar bisher auch nicht bemerkt, dass wir die Auseinandersetzung mit den herrschenden Kräften nicht nur beim Thema soziale Gerechtigkeit suchen, sondern die neoliberale Ideologie vor allem bei ihrem eigenen Anspruch packen. Wir fragen nach ihrer Effizienz.
In ähnlicher Weise geprägt von Wahrnehmungsschwäche sind die Einlassungen zu den siebziger Jahren, zu Wachstum und zum angeblichen Scheitern der Rezepte der Keynesianer. Mikfeld behauptet, ich würde an einer vermeintlich heilen Welt der Siebziger hängen und noch immer glauben, dass die keynesianische Globalsteuerung seinerzeit prima funktioniert habe, und dies auch heute klappe. Damals hätten jedoch die keynesianisch orientierten Linken wirtschaftspolitisch versagt und deshalb die Meinungsführerschaft an den Neoliberalismus verloren. Weiter wird unterstellt, ich vernachlässige die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik.
An diesen Behauptungen stimmt fast nichts: Es gab damals keine heile Welt. Bei der Anwendung wirtschaftspolitischer Konzepte ging es ziemlich durcheinander. Elemente der monetären Theorie prägten die Geldpolitik der Bundesbank. Die Regierung von Helmut Schmidt fand die Kraft zu Investitionsprogrammen, deren Wirksamkeit sogar das Ifo-Institut bestätigte. Dann schwenkte sie wieder um. In meinem Buch Machtwahn wird das ausführlich skizziert und belegt. Mikfeld ignoriert, was nicht in sein Schema passt. Zur Skizzierung des Versagens der Globalsteuerung des damaligen Wirtschaftsministers Karl Schiller (SPD) sucht er sich genau die Jahre des Hin und Hers sowie der Ölpreisexplosionen heraus: 1973 bis 1982. Die Amtszeit Schillers von 1966 bis 1972 wird unterschlagen.
Nimmt man die Phase des vollen Einsatzes expansiver Wirtschaftspolitik ab 1968 mit hinzu, dann kommt man auf ein durchschnittliches Wachstum von real drei Prozent zwischen 1968 und 1982. Das soll das "Ende der Wachstumskonstellation" signalisieren, wie Mikfeld in seinem soziologischen Kauderwelsch meint? So schlecht war das aber gar nicht, zieht man den Vergleich mit der Zeit der Reformen Kohls und Schröders und ihren im Schnitt jämmerlichen 1,2 Prozent Wachstum zwischen 1993 und 2005. Sollen die Reformer von heute doch erst einmal im Durchschnitt drei Prozent real erreichen, bevor sie große Sprüche über frühere Perioden klopfen.
Weiter unterstellt Mikfeld mir und anderen Ökonomen eine einseitige Fixierung auf die Globalsteuerung, die Makroökonomie und Nachfrageseite. Ich fühle mich davon überhaupt nicht betroffen. Seit Jahren werbe ich für den Einsatz aller möglichen sinnvollen Instrumente in der Wirtschaftspolitik - der keynesianischen und der angebotsökonomischen. Natürlich muss sich Wirtschaftspolitik um Produktivität und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, um eine gute Infrastruktur, um Bildung und Ausbildung kümmern. Wenn es aber an makroökonomischer Binnennachfrage fehlt, dann muss auch da nachgeholfen werden.
Eine Sonderprämie verdient
Ist das so kompliziert, dass eine gesamte Parteispitze dem Wahn verfallen ist, die von der eigenen Partei früher erfolgreich angewandten Instrumente seien überholt? "Die Rezepte der siebziger Jahre funktionieren nicht mehr" - das ist die Standardrhetorik dieser Führung. Sachverstand ist dabei weniger im Spiel als die pubertär anmutende Formel, was früher gut war, könne heute nicht mehr gut sein. Solche Gefühle kann man sich bei Musik oder Mode leisten. Bei ökonomischen Theorien und Instrumenten sollte man das genauso wenig tun wie beim Brückenbau oder Kuchenbacken. Das Rezept für Hefeteig hat sich vermutlich in 200 Jahren nicht wesentlich geändert, genauso wenig wie die Berechnungen der Statik einer Brücke. Nur in der Wirtschaftspolitik, da soll heute alles neu sein.
Dieser Vorgang hat für die SPD noch die tragische Seite, dass ihre heutige Führungsgruppe sich von der einstigen erfolgreichen Periode sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung und Kanzlerschaft distanziert. Zwischen 1966 und 1982 haben die Arbeitnehmer kräftig am Wohlstand partizipiert, schwierige Herausforderungen wie Ölpreisexplosionen wurden einigermaßen gut bewältigt. Lange Liegengebliebenes wie der Umweltschutz wurde endlich angepackt, die Bildungschance für Kinder aus Arbeitnehmerfamilien beachtlich verbessert. Vom Gewinn an sozialer Sicherheit ganz zu schweigen. Für die große Mehrheit unseres Volkes waren das goldene Jahre. Und heute müht sich der Abteilungsleiter für Kommunikation des SPD-Vorstandes ab, diese Epoche mies zu reden. Der Mann verdient eine Sonderprämie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
Mikfeld beklagt, die "Zombielinke" habe keine brauchbare Antwort auf die Herausbildung einer "finanzmarktgetriebenen Wirtschaftsweise". Das ist bewundernswert dreist. Wie sieht denn die Antwort der Regierungen Schröder und Merkel auf diese Veränderung aus? Schröder hat das Verscherbeln von Unternehmen mit dem schicken Wort "Auflösung der Deutschland AG" betrieben und die Gewinne, die verkaufende Kapitalgesellschaften und Finanzinvestoren bei der Veräußerung von Unternehmen erzielen, zum 1. Januar 2002 steuerfrei gestellt. Finanzminister Steinbrück und die jetzige Regierung waren so frei, eine weitere Steuererleichterung für Private Equity zu beschließen. Sie haben das Verscherbeln von Wohnungen und öffentlichen Unternehmen an Hedgefonds erleichtert - und konnten zur besseren Regulierung dieser besonderen Kapitalmärkte nichts wirklich Wirksames durchsetzen. Man denke nur an die bescheidenen Ergebnisse des G 8-Finanzminister-Treffens kurz vor dem Gipfel in Heiligendamm. Mit Recht stellt Elmar Altvater im Freitag der vergangenen Woche fest, die SPD sei schon unter Schröder gegenüber den globalisierten Kapitalinteressen eingeknickt, in der großen Koalition rutsche sie auf den Knien durch die Gegend.
Was ist daran falsch, wenn wir eine bessere Regulierung und die Rücknahme der Steuerbefreiung fordern? Ist die Korrektur eines absolut falschen Weges eine Rolle rückwärts? Seltsam. Modern ist es offenbar, wenn man sich als ehemaliger Politiker oder ehemaliger Manager am Verscherbeln und dem anschließenden Überschulden deutscher Unternehmen beteiligt und daran verdient.
Was heißt Umbau des Sozialstaates konkret?
Mikfeld behauptet, ich würde eine sozialkonservative Strömung bedienen und den Umbau des Sozialstaates grundsätzlich für unmöglich und für falsch halten. Das habe ich zwar nirgendwo gesagt. Aber da es hier um eine Kernaussage geht, will ich den Faden gern aufgreifen: Die Linken in der SPD um Nahles und Mikfeld glauben (und damit meine ich ausdrücklich nicht Ottmar Schreiner), der von ihnen ausgeguckte Umbau des Sozialstaats sei wegen der gewandelten Verhältnisse notwendig, und sie behaupten neuerdings eben auch, Schröders Reformen seien Teil dieses richtigen Weges. Leider nennt Mikfeld, um diese Behauptung zu untermauern, keine konkreten Beispiele. Ich will ihm ersatzweise aushelfen:
Hartz I bis III: Nahezu durchgehend gescheitert. Hartz IV: Gegen wirklich bessere Formen in der Arbeitsvermittlung und Fortbildung ist nichts einzuwenden. Hartz IV hat aber nicht nur viele Arbeitslose in große Bedrängnis gebracht, sondern auch die noch arbeitenden Menschen ihrer einigermaßen verlässlichen Arbeitslosenversicherung beraubt. Damit wurde ihr bisschen Macht auf dem Arbeitsmarkt gebrochen - mit großer negativer Wirkung für die Marktmacht der Arbeitnehmerschaft insgesamt. Eine wirksame Arbeitslosenversicherung ist aber ein zentraler Bestandteil der vom Grundgesetz versprochenen Sozialstaatlichkeit und Menschenwürde - deshalb trete ich für die Wiederherstellung einer wirklichen Arbeitslosenversicherung ein. Wer dies sozialkonservativ nennt, hat nichts begriffen, schon gar nichts von den Folgen, die der jetzige Zustand für die Psyche der arbeitenden und der arbeitslosen Menschen und ihre Familien hat. (Ich schrieb diesen Satz, bevor ich am 23. Juli las, der Bundesverband der Betriebskrankenkassen habe eine drastische Zunahme psychischer Erkrankungen festgestellt. Eine Folge der bewusst betriebenen sozialen Verunsicherung. Und das soll ein moderner Umbau des Sozialstaates sein?)
Schließlich Riester-Rente und Rürup-Rente: Um den großen Versicherungskonzernen die Hasen in die Küche zu treiben, wurde das Vertrauen in die solidarische Altersversorgung systematisch zerstört. Vorerst letzter Akt war die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67, verbunden mit einer entsprechenden Minderung der Rente. Die Privatvorsorge über Riester- und Rürup-Rente wird gleichzeitig zu Lasten der allgemeinen Steuerzahler hoch subventioniert. Das ist sozusagen der öffentlich finanzierte Teil des Schmiergeldes, das die Versicherungskonzerne zur Beeinflussung von Wissenschaftlern und Politikern großzügig ausgeben. Allein an den Nebeneinkünften für den früheren sozialdemokratischen Arbeitsminister Walter Riester in Höhe von mindestens 181.500 Euro hätte sich der Vertreter der neuen SPD-Linken verschlucken müssen beim Versuch, diese Art, den Sozialstaat umzubauen, auch noch schön zu reden.
Bleibt als weitere Baustelle des Umbaus noch die Privatisierung, etwa die der Deutschen Bahn AG. Soll das ein hilfreicher Vorgang sein? Hat der Mitarbeiter des Parteivorstandes der SPD nicht die kritischen Erfahrungen bisheriger Privatisierungen bei uns oder in Großbritannien wahrgenommen? Sachlich spricht nichts dafür, das Volksvermögen der Deutschen Bahn zu verscherbeln. Die Absicht wird plausibel, wenn man sich nur anschaut, wie viele ehemalige Politiker und Manager im Gewerbe der Privatisierung tätig sind und für ausländische Heuschrecken arbeiten. Friedrich Merz und Rudolf Scharping, Jürgen Schrempp und Ron Sommer sind nur die Spitze eines makabren Eisbergs.
Albrecht Müller wurde 1973 von Willy Brandt als Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt berufen und behauptete sein Amt auch unter Helmut Schmidt. Bei der Bundestagwahl 1987 wurde Müller für die SPD ins Parlament gewählt. Er pochte früh auf eine moderne differenzierte Industrie- und Forschungspolitik. Im März 1993 verfasste er ein kritisches Strategiepapier, in dem er seiner Partei mehr politische Phantasie empfahl. Nach dem SPD-Führungswechsel von Engholm zu Scharping erklärte er Ende 1993 seinen Verzicht auf eine erneute Bundestagskandidatur. 2004 erschien sein Buch Die Reformlüge - 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren. Es folgte 2006 Machtwahn - Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet. Derzeit ist Albrecht Müller Mitherausgeber der NachDenkSeiten.
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