Das Jahr 2020 mit seiner Corona-Krise machte klar, dass die EU in zweierlei Hinsicht gescheitert ist: Zum einen legte der Umgang mit Covid-19 die strukturelle und personelle Unfähigkeit bloß, die größte Herausforderung Europas seit dem Zweiten Weltkrieg zu managen. Zum anderen zerplatzte die Vorstellung, der europäische Gedanke hätte über die vergangenen Jahrzehnte dazu beigetragen, den Nationalstaat zu überwinden. Das Gegenteil war der Fall. Als sinnbildlich für das Scheitern im Angesicht einer Seuche, deren Gefährlichkeit auch Monate nach ihrem Ausbruch unterschiedlich beurteilt wird, kann der Rücktritt des Präsidenten des Europäischen Forschungsrates, Mauro Ferrari, gewertet werden.
Auf dem Höhepunkt der Krise, als die
e, als die Fallzahlen von positiv Getesteten überall in der Union nach oben schossen und händeringend nach Ursachen und Auswirkungen einer bis dahin unbekannten Virusverbreitung gesucht wurde, trat ausgerechnet jener Mann zurück, der für die Grundlagenforschung zuständig war. Nur drei Monate nachdem der italienisch-amerikanische Nanomediziner die Führung dieser Institution übernommen hatte, war ihm am 7. April 2020 klar geworden, dass die Brüsseler Strukturen als Koordinaten für die Bewältigung der epidemischen Herausforderung ungeeignet sind. „Ich war enttäuscht über die europäische Antwort auf Covid-19. Die Führung des Forschungsrates hatte ich als überzeugter EU-Befürworter übernommen. Doch wegen der Covid-19-Krise habe ich meine Meinung komplett geändert“, so Ferrari anlässlich seines Rücktritts. Auf politischer Ebene sekundierte dem Techniker Ferrari niemand Geringeres als Jacques Delors, zehn Jahre lang Präsident der Europäischen Kommission. In Reaktion auf die völlige Abwesenheit eines europäischen Plans, an dessen Stelle gegenseitige Behinderungen bei der Krisenbewältigung Platz griffen, meinte der 94-jährige Franzose: „Das Klima, das zwischen den Staats- und Regierungschefs zu herrschen scheint, und die mangelnde europäische Solidarität stellen eine tödliche Gefahr für die Europäische Union dar.“ Tatsächlich waren die Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedsländern seit den ersten Corona-Ansteckungen von gegenseitigem Misstrauen, ja offener Feindseligkeit geprägt.Als Anfang März 2020 klar wurde, dass das Virus nicht nur chinesische, sondern auch europäische Lungen angreifen würde, standen die 27 EU-Staaten nicht etwa zusammen, um dem Problem gemeinsam Herr zu werden. Jedes Land verordnete für sein Territorium spontan – und in vielen Fällen ohne Einhaltung der eigenen Verfassungsbestimmungen – Repressionsmaßnahmen. Grundfreiheiten wurden außer Kraft gesetzt, Ausnahmezustände erlassen. Oft setzte sich dabei – wie in Österreich – die Regierungsspitze über das parlamentarische Prozedere hinweg, agierte per Verordnung oder überhaupt nur via Pressekonferenzen. Brüssel erfuhr von dem kopflosen Treiben aus den Medien.Zu allem Überdruss agierte man auch direkt gegeneinander. So führten Deutschland und Frankreich Ausfuhrverbote für medizinische Schutzkleidung und Schutzvorrichtungen ein und ließen damit Länder wie Italien, in dessen nördlichen Provinzen das Virus ideale Verbreitungsmöglichkeiten vorfand, im Regen stehen. In der größten Not musste Rom ausgerechnet auf russische und chinesische Hilfe zurückgreifen. Moskau und Peking sprangen bereitwillig ein und lieferten Schutzmasken und Spezialkleidung. Währenddessen saß EU-Chefin Ursula von der Leyen in ihrem Brüsseler Homeoffice und sah hilflos dem nationalen Wettlauf um Ansteckungs- und Todesraten und den gegenseitigen Behinderungen zu.Absprachen sind MakulaturSo inaktiv die Brüsseler Institutionen gegenüber dem epidemischen Ausmaß der Seuche blieben, so hyperaktiv agierten die einzelnen Mitgliedstaaten. Ein Land nach dem andern schloss die Grenzbalken. Am 10. März erließ Österreich als eines der ersten Länder einen Einreisestopp an der italienischen Grenze. Er galt anfangs nur füDie einzige der vier Grundsäulen der EU, die nirgendwo angetastet wurde, war der freie Kapitalverkehr. Kapital konnte ungehindert verschoben werden. Behindert – in unterschiedlicher Form – wurde der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen, sowohl dadurch, dass in den meisten Ländern Geschäfte schließen mussten, als auch dadurch, dass zwischen Ländern Waren zwar grundsätzlich verkehren durften, Lieferketten aber nicht funktionierten und Grenzkontrollen Zeitverzögerungen mit sich brachten. Am radikalsten außer Kraft gesetzt war die sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Mensch durfte nur in Ausnahmefällen Grenzen überschreiten. Damit wurde auch allen, die davon bislang keine Notiz genommen hatten, klar, wie systemisch wichtig massenhafte Arbeitsmigration zwischen Billig- und Hochlohnländern ist. Paradigmatisch konnte man dies bei Pflegekräften und Spargelstechern sehen. Zigtausende rumänische, polnische und slowakische Altenpflegerinnen saßen oft über Monate fest, entweder bei der zu pflegenden Person in Deutschland und Österreich oder zu Hause in Osteuropa.Mitten im Lockdown des Frühjahrs 2020 kristallisierten sich die Gewinner der in vielerlei Hinsicht verheerenden Maßnahmen heraus. Denn während Millionen Menschen keine Arbeit hatten, kleinere und mittlere, vornehmlich eigentümergeführte Gewerbebetriebe vor dem Ruin standen, Kinder nicht zur Schule gehen und Alte in Heimen nicht besucht werden durften, während also die Angst vor dem Tod das Zusammenleben verunmöglichte, große Teile der Wirtschaft schädigte und Kollateralschäden ohne Zahl verursachte, konnten sich die Gewinner der „Corona-Krise“ die Hände reiben. Denn nicht „die“ Wirtschaft war ruiniert, sondern weite Bereiche des Produktions- und Dienstleistungssektors. Die Starken, die Kapitalstarken überlebten. Und dann waren da noch jene Branchen, denen der Lockdown zu einem ungeahnten Höhenflug verhalf. Pharmaunternehmen, Überwachungstechnikfirmen und Versandhändler verzeichneten und verzeichnen Umsatzsteigerungen, die jenen von Waffenherstellern in Vorkriegszeiten ähneln.Einer der Branchenführer bei Pharmazeutika, Novartis (CH), wies in seinem Geschäftsbericht für das erste Quartal 2020 ein sagenhaftes Gewinnplus von 24 Prozent oder 2,17 Milliarden Dollar aus. Der weltgrößte Arzneimittelhersteller Roche (CH) verbuchte ein Umsatzplus von sieben Prozent. Der französische Pharmariese Sanofi wiederum machte zwischen Januar und März 2020 um 48 Prozent mehr Gewinn als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. 30 Prozent plus waren es für den britischen Konzern AstraZeneca.In der Corona-Krise haben wir gelernt, dass sich die UN-Organisation WHO im Jahr 2020 zu 75 Prozent aus Spenden finanziert. Weil die Mitgliedstaaten ihre Beiträge jahrzehntelang reduziert haben, musste die Weltgesundheitsorganisation auf Drittmittel zurückgreifen. Die Pharmaindustrie griff diese Chance schnell auf und erwies sich bald als größter Geldgeber. Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung mit einem Volumen von 50 Milliarden Dollar ist mittlerweile zum größten Sponsor der WHO geworden. Auch die von Pharmakonzernen und wiederum von der Gates-Stiftung finanziell gefütterte Impfallianz Gavi (Global Alliance for Vaccines und Immunisation) sowie die Koalition für Innovation in der Epidemievorbeugung (CEPI) stecken viel Geld in die WHO. Ihr Engagement wird, wie bei jedem Investment, vom Eigennutz angetrieben.Placeholder infobox-1