Das Volk ist keine Knetmasse

Im Gespräch Mieczslaw Rakowski, ehemaliger Ministerpräsident, über das ganz neue Polen mit ganz neuen Menschen

Der heute 81-jährige Mieczslaw Rakowski ist Herausgeber der Zeitschrift Dzis ("Heute"), einem der wenigen kritischen Organe des polnischen Journalismus. Seine politische Karriere begann der gelernte Historiker nach 1970 unter Parteichef Edward Gierek. 1975 wurde er ins ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) gewählt. 1988 erklomm Rakowski als Ministerpräsident unter Wojciech Jaruzelski das zweithöchste Amt in der Volksrepublik, begann mit einer Reformpolitik und trat, nachdem er den berühmt gewordenen "Runden Tischen" aufgestellt hatte, vom Regierungsposten zurück.

FREITAG: Haben Sie als Reformpolitiker der späten achtziger Jahre je gedacht, dass am Ende ein peripher-kapitalistisches Polen herauskommen könnte?
MIECZSLAW RAKOWSKI: Nicht in dieser Form. Uns war zwar klar, dass mit der Einführung der Marktwirtschaft ein anderes, nicht-kommunistisches System entstehen würde. An einen reinen Kapitalismus dachte ich freilich nicht. Wir sind davon ausgegangen, einen revolutionären Prozess einzuleiten, der einen Dritten Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus eröffnet.

Wann genau kippte die Vision vom Dritten Weg in eine Illusion um?
Aus heutiger Sicht war schon der Ansatz fragwürdig, weil der reale Sozialismus ökonomisch schlicht versagt hat. Im Kern bestand die dogmatische, tief eingewurzelte Vorstellung, der Staat möge alles kontrollieren. Allerdings war für Polen eine Wirtschaftsdiktatur, wenn wir es so nennen wollen, in den ersten Nachkriegsjahren durchaus nützlich. Meine politischen Vorfahren wussten nur zu gut, dass Polen ein rückständiges Agrarland war, vom Krieg zerstört und ohne industrielle Basis. Doch das hat sich nach 1960 mit der ersten Nachkriegsgeneration geändert. Die Menschen begannen zu merken, dass die Initiative des Einzelnen extrem behindert wurde, und es begann sie zu stören.

Wie sehen Sie heute das kapitalistische Polen?
Die Gebrüder Kaczynski stellen sich vor, ein ganz neues Polen mit ganz neuen Menschen schaffen zu können. Ihre ziemlich abstruse Losung lautet: Auch die III. Republik - also die postkommunistische - war schlecht, jetzt brauchen wir eine moralische Revolution, die mit einer historischen Politik einzuleiten ist. Es soll ihrer Meinung nach nicht nur ein neues Bild von Polen entstehen - sie wollen gleich auch einen neuen Menschen mitschaffen. Doch ist die IV. Republik eine falsche Vision - außer zu viel Idealismus enthält sie nichts. Das Volk ist keine Knetmasse, die man beliebig formen kann.

Welche Art von Demokratie steht nach Ihrem Eindruck hinter diesen konservativ-klerikalen Vorstellungen?
Polens demokratische Traditionen sind schwach. Im europäischen Kontext stellen sie dennoch eine Besonderheit dar. Jahrhunderte lang existierte eine Adelsrepublik, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung zur Mitbestimmung ermächtigte. Für die republikanischen Zeiten muss man sich vergegenwärtigen, dass die gesamte polnische Intelligenz in historisch kurzer Zeit aus den Dörfern kam. In Warschau finden Sie heute kaum jemanden, der in der dritten Generation städtisch ist, was freilich auch mit dem extremen Aderlass im Zweiten Weltkrieg zu tun hat. Über 200.000 junge, intelligente Menschen fanden beim Warschauer Aufstand gegen die Nazis den Tod. Das muss man sich vor Augen halten. Derzeit kann man in Polen nicht mehr als höchstens zwei Millionen Bürger zu den Intellektuellen rechnen.

Dabei bleibt die soziale Spaltung Ihres Landes evident, es reicht, auf den Unterschied zwischen Warschau und der Provinz zu verweisen.
Ja, in den ersten zehn Jahren nach der Wende haben sich eine Reihe von Leuten extrem bereichert, größtenteils Personen, die 1990 überhaupt kein Eigentum besaßen, dann aber in kürzester Zeit an Einfluss gewannen. Diese Bourgeoisie hat jetzt das Sagen, man darf sie allerdings nicht so nennen - in dieser Gegend Europas sprechen Medien und Politik lieber von "Unternehmern". Zugleich explodiert die Arbeitslosigkeit, die für zwei polnische Generationen nur ein abstrakter Begriff war, auf über 20 Prozent ...

... eine Quote, die aber wohl zurückgeht, sie lag zuletzt noch bei 13,5 Prozent.
Das ist weitgehend der Emigration geschuldet. Es sind neben den Billiglöhnern für die westeuropäische Landwirtschaft die besten und flexibelsten Arbeiter, die Polen verlassen. Seit dem EU-Beitritt sind die Arbeitsmärkte in Großbritannien und Irland für sie geöffnet. Vor allem aus Kleinstädten wandern die Jungen weg ...

... und kommen vielleicht nach ein paar Jahren wieder zurück?
Unwahrscheinlich. So attraktiv ist der polnische Arbeitsmarkt nicht, das wird in absehbarer Zeit ein großes Problem.

Politisch lieben die Brüder Kaczynski den großen Rundumschlag sowohl gegen die alten kommunistischen Eliten als auch gegen die Generation des "Runden Tisches". Die Anklageerhebung gegen General Wojciech Jaruzelski ist nur die Spitze des Eisbergs.
Im Urteil über das im Dezember 1981 ausgerufene Kriegsrecht sind die Polen bis heute geteilt. Etwa 50 Prozent sind der Meinung, dass die Ausrufung des Kriegsrechts der richtige Weg gewesen ist, was verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass die jüngere Generation mit diesen achtziger Jahren überhaupt nichts mehr anfangen kann.

Gibt es im Blick auf die EU in Polen einen umfassenden Konsens, dass man sich behaupten muss? Oder worin unterscheiden sich Konservative und Sozialdemokraten?
Die führenden Gruppen, ob rechts oder links, lieben die Vereinigten Staaten. Ich sage das ein wenig ironisch, mit bitterer Ironie. Für alle Regierungen seit der Wende steht der wichtigste Verbündete nicht in Brüssel, sondern in Washington, umgekehrt ist das freilich nicht so. Polen ist für die USA mitnichten von allerhöchstem Interesse.

Das Gespräch führte Hannes Hofbauer

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