Es rumort innerhalb und außerhalb der brasilianischen Regierung wegen der makroökonomischen Option, die Präsident Luiz Inácio "Lula" da Silva getroffen hat. Zwei widersprüchliche Ansätze stehen sich gegenüber, jeder mit einer eigenen Logik und Kohärenz. Der eine Ansatz, der die Wirtschaft bevorzugt, begründet sich wie folgt: Nach zwei Jahren Regierungsarbeit und einer strengen Steuerpolitik ist ein deutliches Wirtschaftswachstum feststellbar, die Inflation und die Währung sind unter Kontrolle, die Schulden werden pünktlich bedient, das Missverhältnis zwischen Schuldenlast und Bruttoinlandsprodukt nimmt ab, die Indikatoren der Handelsbilanz und der Arbeitslosigkeit sind besser geworden.
Der andere Ansatz hat die Gesellschaft im Auge
ft im Auge und bezieht sich auf den Menschenrechtsbericht 2004. Alle negativen Ausprägungen der Menschenrechtssituation in Brasilien halten an: Sklavenarbeit, abnehmendes Masseneinkommen, Gewalt gegen die indigene Bevölkerung (16 Morde im Jahr 2004), Unterdrückung der armen Landbevölkerung (20 Morde und 271 Landbesetzungen), soziale Ausgrenzung, allgemeine Zunahme der Gewalttätigkeit - während immer mehr Jugendliche und Kinder in den Drogenhandel verwickelt werden und die sozialen Bewegungen sich weiter demobilisieren. Gleichzeitig widmet sich diese Regierung kaum der dringenden sozialen Forderung nach einer Agrarreform. Dabei müsste man niemandem Boden entziehen - es würde genügen, die 250 Millionen Hektar herrenloses oder die 285 Millionen Hektar brachliegendes Land der Großagrarier zu nehmen. Aber die Landreform wird nicht nur unterlassen, seit Lulas Amtsübernahme hat der Großgrundbesitz mit über 2.000 Hektar sogar zugenommen.Das Resultat ist ein Wirtschaftswachstum ohne soziale Entwicklung - die wirtschaftlichen bringen keine sozialen Gewinne für die breite Mehrheit der verarmten und ausgegrenzten Bevölkerung. Diejenigen, die viel verdienten, verdienen jetzt noch mehr. Hauptbegünstigte sind die Finanzwelt und die Spekulanten. Kurzum, wir haben die notwendigen und versprochenen Veränderungen nicht erhalten. Wir haben erwartet, dass Lula - selbst ein Sohn des sozialen Chaos und ein Überlebender jener schmerzhaften, erniedrigenden Bedingungen in denen die große Mehrheit unserer Bevölkerung leben muss - eine Befreiung in Gang setzen würde. Jedenfalls war er unter dieser Fahne gewählt worden. Als er die Präsidentschaft übernahm, änderte er jedoch die Marschrichtung.Den nationalen und internationalen Eliten scheint es gelungen zu sein, ihn der Logik des herrschenden Neoliberalismus zu unterwerfen. Im Gegensatz dazu, haben wir erwartet, dass Lula und seine Arbeiterpartei (PT) sich daran machen würden, den Neoliberalismus zu überwinden und eine tief greifende Neuverhandlung über die Auslandsschulden mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu erzwingen. Ebenfalls erwarteten wir transparente Verhandlungen mit den anderen internationalen Organisationen, die an der Globalisierung beteiligt sind, um gerechtere Verhältnisse der Entwicklung für alle Länder zu schaffen, die sich den einseitigen Regeln der Weltbank, des IWF und der Welthandelsorganisation (WTO) ausgesetzt sehen. Lula, mit seinem charismatischen Führungsanspruch, hätte das herbeiführen können. Wir haben auch erwartet, dass er die nationalen Eliten in die Logik der Sozialpolitik zwingt, damit sie endlich ihre Sozialschulden an die Bevölkerung zahlen. Kaum etwas davon ist geschehen. Präsident Lula ist vereinnahmt worden von der traditionellen Politik der Eliten, die vom Geschichtswissenschafter José Honório schon 1965 wie folgt beschrieben worden sind: "Die Eliten konzentrieren die Politik auf die Mediation untereinander, um nichts für die breite Bevölkerung übrig zu lassen."Ich habe noch immer Vertrauen in die Person Lula und halte ihn für einen Menschen, der niemals seine Träume verraten würde. Sein eigenes Leiden wird ihm unauslöschlich in Erinnerung bleiben, und so wird er auch niemals die Bevölkerung mit ihrem Leid im Stich lassen. Allerdings sind wir inzwischen davon überzeugt, dass der Präsident sich die falschen Leute und die falschen Mittel ausgesucht hat, um seine Träume zu realisieren.Leonardo Boff ...... Theologe und Umweltschützer, gehört neben dem Peruaner Gustavo Gutierrez zu den bekanntesten Vertretern der "Theologie der Befreiung", die in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand, nachdem deutlich geworden war, dass die traditionelle Amtskirche in Lateinamerika ihrer seelsorgerischen Mission in sozialer Hinsicht nur unzureichend nachkam. Boff wurde mehrfach vom Vatikan gemaßregelt - im September 1991 teilte er mit, seinen Kampf gegen die konservative Kirchenhierarchie einstellen zu wollen. Er trat in den Laienstand zurück und arbeitete fortan vor allem für Vozez, den größten katholischen Verlag Lateinamerikas, der fast alle seine Bücher - sie erreichten Millionenauflagen - herausbrachte.