Das wäre ein Horrorszenario

Im Gespräch Der FDP-Bundestagsabgeordnete und Verteidigungspolitiker Rainer Stinner über gefährliche Kosovo-Ideen in Washington und das Rosinenklauben in Belgrad

Der UN-Sicherheitsrat berät erneut über den Status des Kosovo. Umstritten bleibt dabei der vom Westen favorisierte Plan des UN-Vermittlers Martti Ahtisaari. Belgrad und Moskau lehnen die dort projizierte "überwachte Unabhängigkeit" für die serbische Provinz ab. Sollte eine Einigung ausbleiben, könnten die Kosovo-Albaner einseitig ihre Unabhängigkeit verkünden - dies legt nicht zuletzt die jüngste Erklärung von US-Präsident Bush in Tirana nahe.

FREITAG: Moskau fordert statt der "überwachten Unabhängigkeit" des Kosovo eine "überwachte Autonomie", de facto einen Verbleib bei Serbien. Haben die Russen nicht Recht?
RAINER STINNER: Ich war immer dafür, die Interessen Serbiens zu berücksichtigen. Aber was Belgrad mit Unterstützung Moskaus derzeit betreibt, ist cherry picking: Man pickt die Rosinen aus dem Ahtisaari-Plan heraus, verwirft aber seinen Kern, die Unabhängigkeit der Provinz. Die Kosovo-Albaner haben aber nur deswegen Zugeständnisse an die Serben gemacht - etwa was die Größe und die Arrondierung der serbischen Gemeinden in der Provinz angeht -, um die Unabhängigkeit durchzusetzen. Das eine kann man nicht vom anderen trennen. Der Ahtisaari-Plan ist ein Gesamtkonzept.

Kosovo müsse unabhängig werden, weil die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr zu Serbien gehören wolle, heißt es im Westen. Aber mit diesem Argument müsste man auch die Eigenstaatlichkeit der Republika Srpska unterstützen, die derzeit unfreiwillig zu Bosnien-Herzegowina gehört.
Das kann man nicht vergleichen. Die Mehrheit in der Republika Srpska für die Unabhängigkeit resultiert doch nur daraus, dass die Serben die moslemische Minderheit zu Beginn der neunziger Jahre vertrieben haben. Würde man dieses Votum respektieren, würde man die ethnische Säuberung im Nachhinein legitimieren.

Das ist ein moralisches Argument, kein völkerrechtliches. Ist der Status Quo im Kosovo nicht auch das Resultat eines Verbrechens, nämlich des nicht von der UN legitimierten NATO-Krieges im Jahr 1999?
Auch völkerrechtlich ist die Lage klar: Das Dayton-Abkommen, das 1995 den Krieg in Bosnien beendete, definiert Bosnien-Herzegowina als Gesamtstaat ohne Sezessionsrechte für die serbische Entität. Dagegen sieht die UN-Resolution 1244, die nach Ende der Kampfhandlungen im Kosovo 1999 beschlossen wurde, vor, dass ein Prozess zur endgültigen Statusbestimmung der bisherigen Provinz eingeleitet wird.

Unabhängig von allem Für und Wider muss man konstatieren, dass der Ahtisaari-Plan gegen Moskau nicht durchsetzbar ist. Anfang Juni hat nun Präsident Bush angekündigt, dass die USA einen unabhängigen Staat Kosovo auch ohne Sicherheitsratsbeschluss anerkennen könnten. Wie sollte die EU darauf reagieren?
Ich bin froh, dass die Bundesregierung gegen das einseitige Vorpreschen der US-Regierung nun endlich eine härtere Position eingenommen hat als noch vor drei Monaten. Ich habe schon immer die Auffassung vertreten, dass Deutschland und die EU eine einseitige, unkonditionierte Unabhängigkeitserklärung des Kosovo keinesfalls anerkennen dürfen. Jede Lösung muss sicherstellen, dass grundsätzliche Standards im Kosovo - etwa bei Rechtstaatlichkeit oder Minderheitenschutz - gewährleistet sind, so wie es der Ahtisaari-Plan vorsieht.

Und wenn Pristina und Washington die Einwände aus Berlin und Brüssel schlicht ignorieren und den neuen Staat proklamieren?
Dann könnte sich ein Horrorszenario entwickeln. Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung durch kosovarische Institutionen wäre ein klarer Bruch der UN-Resolution 1244. Dagegen müsste die Friedenstruppe KFOR eigentlich vorgehen. Extrem zugespitzt formuliert: etwa indem sie die führenden Politiker des Kosovo festnimmt sowie auch den US-Botschafter in Pristina. Der Riss würde auch durch die KFOR gehen, die bekanntlich einerseits aus deutschen und anderen europäischen Kontingenten, andererseits aus US-Truppen zusammengesetzt ist. Das mag man sich kaum vorstellen. Aber durch die neue Festigkeit der Bundesregierung scheint dieser worst case verhindert worden zu sein.

Was erwarten Sie von weiteren Verhandlungen?
Ohne weiteren inhaltlichen Input werden sie nichts bringen, sondern sind reine Zeitschinderei. Aber die Dinge sind in Bewegung, auch in Belgrad und Moskau.

Das Gespräch führte Jürgen Elsässer

Rainer Stinner gehört dem Verteidigungsausschuss des Bundestages an und ist Vorsitzender der Parlamentariergruppe Bosnien-Herzegowina.


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