Fernando Pérez wurde 1944 in Havanna geboren. Er studierte Hispanistik, bevor er seine Arbeit 1975 als Dokumentarfilmer am kubanischen Filminstitut ICAIC begann. Hierzulande wurde Pérez mit den Spielfilmen Hello, Hemingway (1994) und Das Leben, ein Pfeifen (1998) bekannt. Sein jüngster Film Suite Havanna, der in dieser Woche in die deutschen Kinos kommt, erhielt im vergangenen Jahr zahlreiche Auszeichnungen, etwa beim Filmfest in San Sebastian. Beim Internationalen Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna avancierte er im vergangenen Jahr zum unumstrittenen Publikumsliebling (Freitag 2/04).
FREITAG: "Suite Havanna" begleitet einen Tag und eine Nacht lang zwölf Kubaner in ihrem Alltag. Ohne Worte. Auch die Protagonisten sind stumm. Haben die Menschen in Kuba derzeit nichts mehr zu sagen?
FERNANDO PEREZ: Ich vertraue sehr auf das Bild als Ausdrucksmittel des Kinos. Die Personen in meinem Film drücken sich durch Gesten aus. Auch in den Spielfilmen, die ich vor Suite Havanna drehte, gibt es viele Szenen, in denen keine Dialoge stattfinden. Und ich hatte eine Schuld dem Dokumentarfilm gegenüber zu begleichen: In den 70er Jahren hatte ich einen Film gedreht, Mineros, bei dem ich an der Kraft der Bilder zweifelte und den ich durch Interviews und Texte regelrecht zerstörte. Das wollte ich wieder gut machen. Außerdem glaube ich, dass das Interview zu einem Gemeinplatz im Dokumentarfilm geworden. Es ist das nahe liegendste Mittel. Ich habe deshalb versucht, Havanna einzig durch die Bilder sprechen zu lassen.
Die Personen in dem Film haben meist mehrere Leben. Ernesto, der tags auf einer Baustelle arbeitet und abends im kubanischen Nationalballett auftritt. Der Bahnarbeiter, der des Nachts Saxofon spielt. Ist das die Normalität in Kuba?
Viele Menschen in Kuba gehen aus finanziellen Gründen nicht ihrem gelernten Beruf nach. Oder müssen nebenbei einen anderen Job ausüben. Viele fahren Taxi, andere backen und verkaufen Kuchen für private Feiern. Am meisten beeindruckte uns die Geschichte von Juan Carlos, dem Arzt-Clown. Er arbeitet als Arzt in einem Labor und tritt zwei-, dreimal die Woche auf Kindergeburtstagen als Clown auf. Über ihn lernten wir auch Jorge Luis kennen, der in die USA auswandert. In einem Film, der einen Tag in Havanna zeigt, darf das Thema der familiären Trennung nicht fehlen. Auch das ist Alltag. Aber ich wollte vor allem diese spezielle Kreativität der Kubaner ausdrücken, ihre Kraft zu überleben und zu träumen.
Die 79-jährige Amanda, deren Mann früher Marxismus an der Universität lehrte, verkauft jetzt Erdnüsse auf dem Prado, der ehemaligen Prachtstraße von Havanna, um zu überleben. Was hat Sie an Amanda fasziniert?
Schon seit langem wollte ich die Geschichte von einem dieser alten Menschen erzählen, die Erdnüsse verkaufen oder Zeitungen oder tausend andere Dinge. Das ist ein Phänomen, das man vor 1990 in Kuba nicht gesehen hat. Wir haben uns nach und nach an diese Realität gewöhnt - wir sehen sie, wir kaufen ihnen irgendetwas ab und fragen uns nicht, was für ein Leben eigentlich dahinter steckt, was für Hoffnungen und Enttäuschungen, was für Illusionen und Frustrationen. In der Geschichte von Amanda gibt es außerdem etwas, was mich fast obsessiv beschäftigt. Jeder Mensch kann am Ende seines Lebens in die Situation kommen, allein zu sein. Die Einsamkeit als menschlicher Konflikt interessiert mich.
Warum haben Sie sich gerade auf das Havanna der Arbeit und des Alltags konzentriert?
Wir dachten auch an ein Havanna der Marginalität. Wir sprachen mit Pedro Juan Gutiérrez, dem Autor des Buches Schmutzige Havanna Trilogie. Aber diese Welt ist im Kino schwieriger zu reflektieren als in der Literatur. Die visuelle und dokumentarische Aussage muss eine authentische Tiefe erreichen, damit der Film nicht an der Oberfläche bleibt und nur provokativ wirkt. Eines Tages wird jemand diesen Film machen, denn mit dem Thema muss man sich auseinandersetzen. Vielleicht ist mir dieses Alltagsleben in Havanna auch am nächsten. Es entzieht sich meistens der Betrachtung zugunsten großer Ereignisse. Obwohl es am meisten über Kuba aussagt, ist es am wenigsten repräsentiert, sowohl in den kubanischen Massenmedien als auch im Ausland.
Der Film ist also Antwort auf das Bild über die Kubaner, das sich seit Wim Wenders´ "Buena Vista Social Club" in den Köpfen festgesetzt hat?
Wir Kubaner werden immer gesehen als Menschen, die gerne tanzen, extrovertiert, gesprächig sind. Und so sind wir natürlich auch. Aber ich glaube, dass sich dieses Bild in ein Klischee verwandelt hat. Wir haben auch Momente der Intimität, des Nachdenkens, des Schweigens.
Wie hat das kubanische Publikum auf dieses Selbstbildnis reagiert?
Ich hatte große Angst vor der Aufführung des Films in Havanna. Vielleicht weil ich dachte, dass diese Art des Nachdenkens über den Kubaner keine Identifikation erlaubt. Aber der Film hat all meine Erwartungen übertroffen. Bei den meisten Zuschauern hat Suite Havanna starke Emotionen ausgelöst, einige haben im Kino geweint. Viele sind zu mir gekommen und haben mir gesagt: "So sind wir. Der Film ist ein Spiegel, wie wir in Wirklichkeit sind."
Und in den Medien? Wie wurde der Film da aufgenommen?
Suite Havanna wurde sehr polemisch diskutiert. Innerhalb Kubas und außerhalb. Einige, vor allem Exilkubaner, haben ihn als Film gesehen, der das kubanische Regime kritisiert, der eine Vision vom Leben "dort drüben" zeigt, als ein verdorbenes und beschädigtes Leben, ohne Hoffnung, ohne Ausweg. Und andere sahen darin, als anderes Extrem, eine Hymne auf die Würde des kubanischen Volkes, auf seine Widerstandskraft - politisch verstanden - trotz der Schwierigkeiten.
Wie stehen Sie dazu?
Keine der beiden Positionen war mein Anliegen. Der Film hat natürlich auch einen politischen Inhalt. Aber ich wollte keinen politischen Diskurs halten, sondern einen Film aus dem Leben heraus machen. Die kubanische Realität provoziert aber unvermeidlich eine politische Lesart. Jede extreme Haltung reduziert jedoch den Inhalt des Films. Ich denke, Kuba kann nicht festgelegt werden auf einen einzigen Wert, kann nicht in Schwarz-Weiß definiert werden. Es gibt immer eine Ambivalenz der Dinge. Für mich ist wichtig, dass der Film verschiedene Lesarten zulässt und der Zuschauer sein eigenes Leben darin wieder erkennt.
Ist das nicht angesichts der Situation Kubas eine recht diplomatische Haltung?
Nein, das hat nichts mit Diplomatie zu tun. Diplomatie ist eine politische Sprache. Und ich suche die künstlerische Auseinandersetzung. Ich denke, die Rolle der Kunst ist es, die Realität so komplex wie möglich zu reflektieren. Und natürlich bin ich durch mein Leben in Kuba Teil dieser Realität. Aber ich zwinge meinen Blick niemandem auf. Ich lehne Kino als manipulatives Spektakel ab. Meine Arbeit muss offen sein für die verschiedenen subjektiven Sichtweisen. Die vervollständigen erst einen Film. Das ist das Kino, das mich interessiert.
Der Film vermittelt eine Traurigkeit, die man so im kubanischen Kino noch nicht gesehen hat. Die Kinder scheinen in Kuba die einzigen zu sein, die noch lachen können.
Das ist eine Lesart. Manche haben mir auch gesagt, der geistig behinderte Francisquito sei der einzige, der lächelt. Aber wenn man genau hinschaut, haben auch die anderen Personen ihre Momente der Fröhlichkeit. Das zentrale Gefühl, mit dem wir bei dem Film arbeiteten, war aber die Melancholie. Erstens weil ich ein melancholischer Typ bin (lacht). Und zweitens, weil ich glaube, dass die Melancholie - wie übrigens auch die Bilder von Edward Hopper - einem erlaubt, berührt zu sein, aber gleichzeitig die Fähigkeit zur Reflektion zu bewahren.
Der melancholische Blick innerhalb des kubanischen Filmschaffens ist derzeit ungewöhnlich.
Man hat das kubanische Kino in letzter Zeit oft beschuldigt, das Genre der Komödien überzustrapazieren, eine "leichte" Sichtweise zu verfolgen. Ich denke, das sind auch Ansätze, die Realität einzufangen. Aber in vielen dieser Komödien gibt es trotz der Leichtigkeit einen Blick, der ungewöhnlich ist. Der anders ist als in den journalistischen Massenmedien - der Presse, dem Fernsehen oder dem Radio.
Das kubanische Filminstitut ICAIC übernimmt seit langem die Rolle der gesellschaftlichen Kritik im Land. Etwa dadurch, dass es große Freiheiten für die Filmemacher einräumt. Wie sahen Ihre Produktionsbedingungen aus?
Wenn das kubanische Kino durch etwas definiert wird, zumindest das Kino des ICAIC, dann durch den Versuch, unsere Realität zu reflektieren mit ihren Widersprüchen und in ihrer Komplexität - ob der einzelne Film das nun erreicht oder nicht, sei dahingestellt. Ich konnte an Suite Havanna in absoluter Freiheit arbeiten. Ich habe dem ICAIC, das den Film produzierte, und dem spanischen Co-Produzenten, der das Projekt finanzierte, eine Zusammenfassung von drei Zeilen präsentiert: Ein Tag in Havanna mit verschiedenen Personen, die ihr Leben leben. Das ist die Geschichte. Ich habe den Film gedreht, geschnitten und als er fertig war, habe ich ihn dem ICAIC und dem spanischen Co-Produzenten gezeigt. In Kuba sagte das Präsidium, das sei ein künstlerisches Werk, es zeichne auf künstlerische Weise ein komplexes Bild unserer Wirklichkeit. Und es gab keinerlei Restriktionen, was die Aufführung anbelangt. Nur im Fernsehen ist der Film noch nicht gesendet worden. Warum, weiß ich nicht.
Sie leben in Madrid, in Berlin und kehren immer wieder nach Havanna zurück. Was hält Sie in Kuba?
Ich kann nirgendwo anders leben als in Kuba. Manchmal glaube ich, es ist das Alter. Ich bin jetzt 60 Jahre alt. Aber es ist mehr: meine Töchter leben in Madrid, ich war jetzt vier Monate da. Mir gefällt Madrid sehr, aber irgendetwas fehlte mir, ich hab mich nicht kreativ gefühlt. Als ich nach Havanna zurückkam, fühlte ich, schon als ich am nächsten Morgen auf die Straße ging, dass alles an seinem Ort war. Es gibt in Havanna eine Energie, die über Worte und Erklärungen hinausgeht. Ich glaube Havanna ist mein Platz in dieser Welt.
Am Ende des Films liest der Zuschauer den Traum von jedem einzelnen der zwölf Hauptpersonen. Nur bei Amanda steht, dass sie keine Träume mehr hat. Haben Sie noch Träume?
Ich träume von einem Kuba, wo sich einige Dinge ändern und andere nicht: Ich kann mir kein amerikanisiertes Kuba vorstellen, voll mit McDonald´s und Kentucky Fried Chicken. Ich stelle mir ein offeneres Kuba vor, aber mit den Errungenschaften. Der Regisseur von Erdbeer und Schokolade Tomás Gutiérrez Alea, der mein Lehrer war, hat einmal gesagt: "Die kubanische Revolution war ein perfektes Drehbuch, nur die Inszenierung ist unperfekt." Ich habe noch die Illusion von einer Gesellschaft, die einen besseren Menschen und eine bessere Welt erschafft, wo jeder die Möglichkeit hat, sich zu verwirklichen. Und ich träume von einem Engel mit Geld, der mir mein nächstes Filmprojekt finanziert: Amorosa Gilda, die Autobiografie von Anna Senza, die ich in Italien drehen will.
Das Gespräch führte Grit Weirauch
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