Der Erste Weltkrieg war „wie der Starter einer Kettenreaktion, die bis heute nicht zum Halten gebracht werden konnte. Aber die Ruhe der Trauer, die nach großen Katastrophen sich über eine Unglücksstätte senkt, ist bis heute ausgeblieben“, schreibt Hannah Arendt in ihrem großen Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Die wenigen, die versuchten, innezuhalten, die nicht mehr weitermachen wollten, wurden an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt. Bis heute hat sich im Fall des 1886 in Pirmasens geborenen Flüchtlings Hugo Ball, bekannt als Erfinder des Lautgedichts und Begründer des Dadaismus, daran nicht viel geändert.
„Man hat mir den Stempel der Zeit aufgeprägt. Es geschah nicht ohne mein Zutun.R
hne mein Zutun.“ Dieser selbstkritische Blick ist bezeichnend für Hugo Balls tiefschürfendes, kluges, brillant geschriebenes Lebensbuch Die Flucht aus der Zeit, das 1927 erschien und nun in einer ausführlich kommentierten Neuauflage vorliegt und – welch Wunder – gleich nach Erscheinen auf der SWR-Bestenliste auf dem dritten Platz landete.Hugo Ball war nicht untypisch für die Dichter seiner Generation, die sich als Vertreter einer jungen, rebellischen Literatur verstanden. Sie brachen mit den ästhetischen und moralischen Konventionen und Vorstellungen des Bürgertums. Aber sie meldeten sich fast alle freiwillig zum Militärdienst – auch Hugo Ball, seine Dichterfreunde Hans Leybold („Wir rollten von den Dächern, sternverschwistert“) und Klabund, Herausgeber der weit verbreiteten Auswahl Das Deutsche Soldatenlied – wie es heute gesungen wird. Doch die Kriegseuphorie war schnell verflogen. Und die Konsequenzen, die sie zogen, waren radikal – anders als die der meisten Dichter, die sich dem Krieg weiter hingaben, und anders als die der „deutschen Intelligenz“, deren Vordenker mit ihrem Manifest der 93 selbst nach dem brutalen Überfall auf das neutrale Belgien den offensichtlichen Kriegsterror noch verteidigten.Hunger, Drogen, Gefängnis„Es ist unerhört und scheußlich, daß dieser junge Mann aus dem Kriege nur die physische Konsequenz ziehen mußte, während die geistige ihm versagt blieb“, so Hugo Ball in seiner Totenrede anlässlich der von ihm im Februar 1915 in Berlin organisierten öffentlichen „Gedächtnisfeier für gefallene Dichter“ über den Selbstmord seines Freundes Hans Leybold. Dieser hatte sich an den Massenexekutionen von Zivilisten und der Plünderung und Brandschatzung von Privathäusern nicht mehr beteiligen wollen.Hugo Ball dagegen desertiert. Seine „geistige Konsequenz“ lässt ihn in die Schweiz fliehen, nach Zürich. „Wenn uns die Sprache wahrhaft zu Königen unserer Nation macht, dann sind ohne Zweifel wir es, die Dichter und Denker, die dieses Blutbad verschuldet und die es zu sühnen haben“, rechnet er mit sich ab.In Flucht aus der Zeit setzt sich Hugo Ball selbstkritisch mit den Ursachen und Folgen des Krieges auseinander. Seine Lebensgefährtin Emmy Hennings schreibt davon, dass Ball von der „Weltkatastrophe“ sprach, als habe er den Krieg alleine ausgelöst und müsse alles allein wieder in Ordnung bringen. Er könne, schreibt Ball in diesem Zusammenhang, nicht nur für sich umkehren. Die ganzen Ideen müssten ebenfalls umgekrempelt werden. „Das zerrt und reißt und blutet aus hundert Wunden. Ich will mit der ganzen Nation eintreffen oder nicht leben.“Das Künstlerpaar Ball-Hennings durchlebt im Zürcher Exil eine Phase extremer existentieller Bedrohungen. Hunger, Drogen, Gefängnis, ein verzweifelter Fluchtversuch und schließlich der Ausweg: Gemeinsam mit Künstlerfreunden gründen sie am 5. Februar 1916 im Obergeschoss der Spiegelgasse 1 das Cabaret Voltaire. Die Geburt Dadas.Dada entwickelt sich aus dem täglichen Programm, das von den Balls und den Mitgründern Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco sowie Tristan Tzara auf die Bühne gebracht wird – als ästhetische und ethische Geste gegen den Krieg und die militarisierte Gesellschaft. Doch eine neue Kunstrichtung – den Dadaismus, wie sie sich später nennen wird – wollte Hugo Ball nicht in die Welt setzen.Doch schon ein Jahr später zieht sich Ball aus dem Voltaire wieder zurück, bricht mit Dada. So frappierend dieser Bruch erscheinen mag, für ihn bedeutet die erneute Aufnahme seiner journalistischen Tätigkeit auch eine Befreiung. Anders als bei Zeit im Bild, für die er in Berlin bis zu seiner Flucht aus Deutschland unter Zensurbedingungen geschrieben hat, kann er in der Freien Zeitung in Bern seine Analysen und Polemiken gegen die deutsche Kriegsführung unzensiert veröffentlichen.Parallel dazu publiziert er seinen analytisch scharfen Essay Zur Kritik der deutschen Intelligenz, in dem er die deutsche Geistesgeschichte zurück bis zu Martin Luthers Reformation gegen die herrschende Kanonisierung liest und „die Dämonie der deutschen Geschichte seit 1517” entschlüsselt. Im Vorwort prophezeit er hellsichtig: „Es ist meine feste Überzeugung, daß der Sturz der preußisch-deutschen Willkürherrschaft nicht genügen wird, die Welt vor einem ferneren deutschen Attentat – das ja nicht nur in kriegerischen Aktionen zu bestehen braucht – zu schützen.“Politisch vollständig desillusioniert, kehrt er von einer Reise nach Deutschland zurück. Er sieht dort keinerlei Ansätze für eine tatsächliche Revolution oder tiefergehender Konsequenzen aus dem moralischen Desaster des Krieges. Ball muss sich das Scheitern seiner politischen Intervention eingestehen. Wieder vollzieht er eine radikale Umkehr. Der scharfe Kritiker der deutschen Intelligenz, der vom Anarchismus Michail Bakunins beflügelte Denker, wendet sich einer ganz anderen spirituellen Kraftquelle des Geistes zu.Mit der Publikation Byzantinisches Christentum. Drei Heilgenleben (1922) stellt Hugo Ball nun seine Einsichten aus der Lektüre „der großen christlichen Kirchenväter“ und seine neugewonnene Perspektive vor und gibt damit eine historisch unvergleichliche Antwort auf den „furor teutonicus“. „Es gibt nur eine Macht, die der auflösenden Tradition gewachsen ist: Ein neuer, vertiefter, ein integraler Katholizismus, der sich nicht einschüchtern läßt; Respektierung der unsterblichen Seele und Anerkenntnis ihrer Verletzlichkeit. Dass jede Kreatur, die Menschenantlitz trägt, ein Recht auf Existenz, auf die Behauptung ihres Gewissens hat.“Angefeindet, verleumdetMit diesem Bekenntnis kehrt Hugo Ball endgültig in die katholische Welt zurück. Es wird zum mentalen Ausgangspunkt seiner Retrospektive, die er mit der Redaktion seiner Tagebuchnotizen (1913 bis 1922) vornimmt. Anhand „kurzer, aber wesentlicher Auseinandersetzungen mit Lektüren, Menschen und Geschehnissen“ will er seine – und perspektivisch auch Deutschlands Umkehr, die „Kurve einer Konversion“ (des „religiösen Militarismus“) darstellen. Es wird eine große Erzählung von „Gottes- und Menschenrechten“ und mündet in seine „Flucht zum Grunde“, der Reise nach Deutschland.Es ist der geduldig und beharrlich arbeitenden Hugo-Ball-Gesellschaft zu verdanken, dass nun auch das Hauptwerk Hugo Balls innerhalb der Gesamtausgabe kommentiert vorliegt und das Verdienst der Herausgeber, dass der oft flirrende Text nachvollziehbarer ist. Sie legen offen, dass das „Tagebuch“ viel stringenter auf Balls Konversion hin stilisiert ist als bisher vermutet wurde. Damit ermöglichen sie eine neue und genauere Einsicht in Hugo Balls Leben und Werk, Voraussetzung für eine umfassende Biografie, die immer noch aussteht.Die Flucht aus der Zeit wird in der Neu-Ausgabe ergänzt um bisher nicht veröffentlichte, teilweise jedoch erhellende Fragmente von Typoskripten, und man erfährt in den Anmerkungen auch vieles Unzugängliche aus den geheimen Tagebüchern, die für die Öffentlichkeit (bisher) gesperrt sind – Hugo Ball wollte sie verbrannt wissen –, von den Herausgebern inzwischen jedoch eingesehen werden konnten. Es wäre zu wünschen, dass Balls Notizen bald vollständig freigegeben werden, denn die Treue gilt, wie Max Brod im Falle Kafka wusste, nicht dem Autor, sondern dem Werk.Die Anfeindungen und Verleumdungen, denen Hugo Ball, der 1927 in Gentilino an Magenkrebs starb, und sein Werk zu Lebzeiten ausgesetzt waren, mögen ein Grund für ihn gewesen sein, alle nicht von ihm bearbeiteten Texte der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Dass sich diese Gegnerschaft heute in arrogante Ignoranz verkleidet, ist erst recht ein Grund, den Autor aus dem Vergessen zu holen.„Alle Träume der Kindheit sind selbstlos und gelten der Wohlfahrt und Befreiung der Menschheit“, bekennt Ball, der sich stets weigerte, sich den Gegebenheiten zu beugen. Es ist, als hätte er dieses Motto den jungen Leuten, die sich derzeit jeden Freitag um „die Wohlfahrt der Menschheit“ mühen, ins Stammbuch geschrieben. Und weiter: „Geboren werden die Menschen allesamt als Erlöser und Könige. Aber die wenigsten vermögen sich zu behaupten, oder, wenn sie sich schon verlieren, sich wiederzufinden.“Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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