Deeskalation ist auch keine Lösung­

Kino Roman Polanskis Film "Der Gott des Gemetzels" macht Theater: Zwei Elternpaare lösen nach Yasmina Rezas Bühnenstück einen Kinderstreit auf unzivilisierte Weise

Vielleicht ist der Mensch ja tatsächlich von seiner Natur her ein Raubtier und wird nur vom „dünnen Firnis der Zivilisation“ davon abgehalten, seiner Mordlust freien Lauf zu lassen. Vielleicht aber gehört es einfach zu den Lieblingsfantasien des Menschen, sich selbst als Wolf im Schafspelz vorzustellen. Frei nach dem Motto: Nein, ich bin nicht so harmlos, wie ich aussehe, ich tue nur so. Wenn ihr wüsstet!

Die oberflächliche Beschreibung von Yasmina Rezas Stück Der Gott des Gemetzels liest sich nach Illustration der erstgenannten These: Zwei Ehepaare treffen sich, um „ganz zivilisiert“ über den zwischen ihren Söhnen ausgebrochenen Streit zu verhandeln und geraten darüber selbst in eine heillose Auseinandersetzung. Der boulevardeske Spaß, den die dargestellte Entblätterung der Mittelschichtsvorstellung vom zivilisierten Umgang miteinander bereitet, spricht aber gleichzeitig für die zweite These: Man sieht den Charakteren so gerne beim Verlust ihrer Nettigkeitsfassaden zu, weil sie beim Gegenteil, dem raubtierhaften Zähnefletschen, eine noch viel lächerlichere Figur abgeben. Roman Polanskis fulminante, großartig gespielte und dabei nur knapp 80-minütige Leinwandversion tendiert auf jeden Fall zu These zwei.

Die erste Szene ist stumm: eine Gruppe von Kindern auf einem Spielplatz. Ein Junge wird verspottet, es kommt zum Gerangel und einer schlägt einen anderen mit einem Ast ins Gesicht. Die nächste Szene zeigt das Ehepaar Nancy (Kate Winslet) und Alan (Christoph Waltz), wie es hinter Michael (John C. Reilly) und der am Computer sitzenden Penelope (Jodie Foster) steht. Man setzt gemeinsam ein Schriftstück auf, in dem der Vorfall zwischen ihren Söhnen geschildert wird. Penelope – ihr Sohn ist der Geschlagene – will schreiben, der Schläger, also Nancy und Alans Sohn, sei mit einem Stock „bewaffnet“ gewesen. Das Paar verwehrt sich dagegen. Nach kurzem, angespanntem Hin und Her einigt man sich darauf, dass der Junge den Stock „getragen“ habe. Man bleibt angestrengt freundlich.

Geordnete Kriegsführung

Nach Erledigung weiterer Formalitäten beginnen Nancy und Alan, sich zu verabschieden. Als Zuschauer spürt man, wie sich Erleichterung zwischen den beiden Ehepaaren breitmacht: Gleich, gleich wird diese grauenhaft angespannte Situation zu Ende sein, wird man das aufgesetzte Lächeln aus dem Gesicht streichen und in hemmungsloses Lästern über die jeweils anderen ausbrechen können. Doch dann passiert das Schreckliche: Michael und Penelope laden noch zu einer Tasse Kaffee. Ein Angebot, das Nancy und Alan nicht ablehnen können. Und von da an duellieren sich Masochismus und Sadismus in fürchterlicher Ausgeglichenheit. Jeder quält sich selbst, indem er noch länger in der eigentlich allen unangenehmen Situation verharrt, eine Unlust, die nur die Lust daran wettmacht, dass man gleichzeitig die anderen weiter mit der eigenen Anwesenheit foltert.

Dabei ist Der Gott des Gemetzels kein Film, der auf eine kathartische Destruk­tionsorgie lossteuert. Viel zermürbender wirkt, dass auf die vielen kleinen Eruptionen – eine Aggression hier, eine Entgleisung da – stets wieder das Glätten der Wogen erfolgt. Ob über wertvolle Kunstbände gekotzt wird oder ein Handy im Blumenwasser landet, immer wieder wird aufgeräumt und weggewischt. Wie im richtigen Leben. Der Mensch ist weder Wolf noch Schaf, sondern ein rätselhaftes Drittes, das die Handhabe von Putzlappen beherrscht.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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