Dekolonialisert Euch! Sinthujan Varatharajah fordert ein neues postkoloniales Denken
Interview Sinthujan Varatharajah holt den Kolonialismus aus dem Museum in den Alltag. Sie*er dekonstruiert hegemoniale Machtpolitiken und falsche Gewissheiten
„Ich lese die Documenta 15 als Kollision der deutschen und nichtdeutschen Realitäten“ – der*die kritische Denker*in Sinthujan Varatharajah im Gespräch
Foto: Lilian Scarlet Löwenbrück
Russischer Angriffskrieg, Aufstände im Iran und ein globaler Kampf um Ressourcen, die den Klimawandel befeuern. Gerade hängt alles mit allem zusammen. Wie kann man diese Welt noch greifen? Wo kann man ansetzen, um mehr globale Gerechtigkeit zu schaffen? Sinthujan Varatharajah ist Kind tamilischer Flüchtlinge und lebt in Berlin. In seinem anspruchsvollen Essay an alle Orte, die hinter uns liegen beschreibt sie*er, wie der Kolonialismus die Gegenwart prägt, und zeigt, warum die Art, wie wir sprechen, hinterfragt werden muss.
der Freitag: Sinthujan Varatharajah, woran denken Sie, wenn Sie an koloniale Gewalt denken?
Sinthujan Varatharajah: Ich denke an die Welt, die wir geschaffen haben. An die Welt, in der wir leben, dessen Teil wir sind und die von unterschiedlichen „
haben. An die Welt, in der wir leben, dessen Teil wir sind und die von unterschiedlichen „modernen“ Imperien innerhalb weniger Jahrhunderte zu einem großen Tatort entstellt wurde. Eine Welt, die heute diese Art der Gewalt kaschiert, vergraben und verzerrt, sie künstlich in Archive, Museen, Universitäten, Kinos, Fernseher und Bücher verschoben hat. Und damit auch die Alltäglichkeit und Allgegenwärtigkeit dieser Gewalt aus unserem Bewusstsein gedrängt hat.Wer sollte definieren, was koloniale Gewalt ist?Nicht diejenigen, die davon noch immer profitieren. Archive oder „moderne“ Wissensinstitutionen bedienen und reproduzieren die Geschichtsschreibung, Machtverhältnisse, die Logiken der Kolonialisierung. Die Lösung liegt jedoch nicht in diesen Institutionen. Wir müssen Debatten über Restitutionen, Reparationen und Korrekturen breiter führen und dabei Räume berücksichtigen, die als banal und mondän gelten.Welche „Räume“ meinen Sie?Straßen, Gleise, Lande- und Startbahnen, Brücken, die den Boden weltweit entstellen, oder das, was „moderne“ Menschen heute als Naturen verstehen: Gärten, Parks, Reservate, Seen, Flüsse und Wälder. Meine Kritik ist hierbei nicht neu, sie reiht sich in die vieler ein, vor allem vieler indigener Aktivist*innen. Wir sprechen bis heute von Menschenrechten statt allgemein von Rechten, die allem Leben zusteht. Wir tolerieren bestimmte Formen der Gewalt, während wir andere anprangern.Wie ist Ihre Familie mit dem Kolonialismus verbunden?Wie ist denn eine Familie nicht mit dem Kolonialismus verbunden? Die Frage ist eher: Auf welcher Seite der Betroffenheit stehen wir? Wir kommen aus einer Region, die seit mehr als 500 Jahren kolonialisiert wird. Es gibt so viele unterworfene Generationen vor mir, dass ich sie weder beim Namen nennen noch zählen kann. Genauso wie unzählige Generationen von Kolonialisierten in meiner Familie existieren, existieren auch unzählige Generationen von Kolonialist*innen. Deren Namen haben die Zeit anders überstanden als die meiner Familie. Kolonialismus muss als Zerstörung von Geschichten verstanden werden, weniger als Produzent derer. Mit den Kolonialisierungen hat man* uns nicht nur unserer Vergangenheiten, sondern auch unserer Zukunften beraubt. Man* hat uns jegliche Vorstellungskraft genommen, wer wir außerhalb dieser nicht enden wollenden Zerstörungen sein könnten, die uns nun „unaufhaltsam“ in den globalen Kollaps führen werden. Diese Welt, der wir gebannt zusehen, wie sie sich selbst zerstört, ist schon jetzt eine Ruine und ein Massengrab.Ihre Familie hat jahrelang in Asyllagern gelebt. Setzt sich da Kolonialismus fort?Logiken der Bevölkerungskontrolle wurden unter verschiedenen Kolonialregimes erprobt und perfektioniert. Asyllager unterliegen ähnlichen Kontrolllogiken, die ungewollte und „wegwerfbare“ Bevölkerungen räumlich konzentrieren und managen. Die Asylsysteme wurden kapitalistisch rationalisiert. Wie viele Menschen können wir aufnehmen? Wie viele Kosten darf das verursachen? Es gibt auch qualitative Unterschiede innerhalb verschiedener Asylsysteme. In Großbritannien oder Kanada wurden Asylsuchende ziemlich schnell im Sozialwohnungsbau untergebracht. Das heißt nicht, dass es ihnen gut ging. Aber es ist ein Unterschied, ob du jahrelang in einem Lager außerhalb der Stadt interniert wirst oder unter der sogenannten Allgemeinbevölkerung leben darfst.Sie sprechen von „interniert“.Um nicht die Wirklichkeit des Lagers zu verharmlosen. Oft ist in der „sozialdemokratischen“ Sprache von „Heimen“ die Rede, um zu verdrängen, dass die Menschen da nicht freiwillig sind und der Aufenthalt auch nicht dem eines Schullandheimes entspricht. Es geht um Kontrolle, Segregation und Verwaltung. Die Asylsysteme der Gegenwart sind traumatische Institutionen, die nicht beabsichtigen, Gewalterfahrungen zu lindern, sondern neue Traumata zu produzieren, um künftigen Grenzüberschreitungen entgegenzutreten.Sie sind als Kind tamilischer Flüchtlinge in Deutschland geboren. Wie identifizieren Sie sich?Als Tamil*in. Meine Eltern sind nicht geflohen, damit ihre Kinder hier deutsch werden. Sie sind geflohen, um als Eelam-Tamil*innen weiter existieren zu können. Die Frage, wie ich mich identifiziere, ist eine Frage, die nur innerhalb nationalstaatlicher Ordnungen relevant ist und meistens instrumentalisiert wird, um ein Außen und ein Innen zu schaffen. Als Mitglied eines staatenlosen Volkes weigere ich mich, mich dieser nationalstaatlichen Logik unterzuordnen. Ich bin ein*e Eelam-Tamil*in und das Buch ist, obgleich auf Deutsch geschrieben, dennoch Teil einer eelam-tamilischen Erzählung.Placeholder infobox-1Was bedeutet das für Ihr Schreiben?Ich finde es schwierig, in dieser imperialen Sprache und imperialen Grammatik der Welt gerecht zu werden, die wir zu retten versuchen. Für mich ist Sprache ein Werkzeug, dessen Grammatik und Ordnungsstrukturen ich nicht respektieren muss. Ich setze in dem Buch zahlreiche Dinge kursiv, anderen füge ich ein „sogenannt“ hinzu, um die Stabilität dieser als „fest“ und „real“ wahrgenommen Konstrukte zu hinterfragen und meine eigene Realität zu artikulieren. Denn wieso müssen wir uniform sprechen und schreiben? Wichtiger noch: für wen tun wir das? Für wessen Verständnis?Sagen Sie es mir.Wenn wir uns heute gängige Karten und ihre Legenden anschauen, dann sieht man* fast ausschließlich europäische Konzepte und Bezeichnungen, die die Welt zu fassen, zu vermessen und zu kontrollieren versuchen. Die Welt in Sprachen zu erklären und verzweifelt zu pressen, die niemals die Welten außerhalb der eigenen beschränkten Kulturlandschaften gerecht werden können, ist auch eine Form von imperialer Gewalt.Wir üben Gewalt aus, indem wir Dinge benennen?Durch das Benennen findet eine Inbesitznahme von Dingen statt. Seit Jahrzehnten wird gestritten, ob man* vom Persischen oder Arabischen Golf, vom Koreanischen oder Japanischen Meer sprechen soll. Wieso muss ein Meer überhaupt einen Namen tragen? Und wenn, wieso nur einen? Dinge werden heute in juristische Kategorien gezwungen, die Besitzverhältnisse ausdrücken und verwalten. Denken Sie an die Nomenklatura von internationalen und nationalen Gewässern oder Lufträumen. Es geht dabei letztlich um wirtschaftliche Interessen. Bis zur Invasion der Ukraine hat Russland an jedem Flug, der über das sogenannte russische Territorium geflogen ist, fast 100 Euro pro Ticket verdient. Wie kann der Himmel jedoch einem Staat gehören? Wie kann ein Fluss einem Staat gehören? Wenn wir uns dem gedanklich und sprachlich verweigern, bringen wir Menschen dazu, andere Realitäten wahrzunehmen.Aber wenn jede* und jeder* spricht, wie sie*er will, werden Dialog und Verständigung schwierig.Sprache ist unvermeidlich Politik, sie wird heute genauso wie Sprechende und Schreibende in Nationalstaaten verwaltet. Es werden Sprachen zu Nationalsprachen ernannt, andere zu Minderheitensprachen, Regionalsprachen, ungewollten oder gar verbotenen Sprachen erklärt. So verschwinden marginale Sprachen und Arten des Sprechens. So verschwinden Vokabeln, die auf eine Vielzahl von Benennungsmöglichkeiten unserer Umwelten, und als Teil dessen auch unserer selbst, hinweisen. In meinem Buch habe ich zum Beispiel oftmals tamilische Namen verwendet und Tamil geschrieben, ohne eine Übersetzung daneben zu stellen. Ich wollte aus einer lebenden Sprache kein Museum machen. Bei „karuppu yūlai“, dem Schwarzen Juli (den anti-tamilischen Pogromen vom Juli 1983, Anm. d. Red.), habe ich dagegen die Lautsprache daneben gesetzt, weil ich den indigenen Namen dieser Verbrechen etablieren will, ähnlich wie es anderen Opfergruppen bei Shoah oder Naqba bereits gelungen ist.Ausgangspunkt Ihres Essays ist ein Foto aus dem Familienalbum, zugleich beschreiben Sie die Fotografie als „imperiale Waffe“.Die Fotografie ist noch immer eine Waffe. Jedoch nicht nur eine imperiale. Wir leben in einer Zeit, in der Bilder notwendig sind, um Realitäten darzustellen, sie zu materialisieren und gleichzeitig auch anzuprangern. Das sieht man* gerade im Iran, aber auch in Kurdistan oder Belutschistan. Bilder mobilisieren, sie wecken Gefühle, deswegen werden sie von autoritären Regimes aktiv kontrolliert. Damit versuchen sie ihre Bildmonopole aufrechtzuerhalten, die mit der Verbreitung von Smartphone-Kameras und dem Internet an den meisten Orten dieser Welt noch weniger zu halten sind als zuvor. Internet-Blackouts, wie ihn die iranische Regierung ausgelöst hat, kennen wir auch von der indischen Regierung in Kaschmir, aus Äthiopien oder China. Diese Art von Zensur verhindert, dass Bilder zirkulieren und Menschen erreichen können, die den Moment der Darstellung ohne diese Art der Bildmaterialien nicht bezeugen könnten. Heute kommt das Fehlen eines Bildzeugnisses dem Nichtexistent-Sein gleich. Bilder sind zu Zeugnissen geworden. Es gab noch nie so viele Bildzeugnisse von dieser Welt wie heute. Und dennoch gibt es noch immer eine solche Diskrepanz darin, welche Bilder uns erreichen. Nicht nur technisch, sondern vor allem auch emotional.Emotional bewegt seit Monaten der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Ist er Ausdruck einer neuen Form des Imperialismus?Nein, ich denke nicht. Postkolonialismus oder Neokolonialismus sind nur Verneinungen dessen, dass die Vergangenheit immer auch die Gegenwart und der Albtraum von damals immer auch der Albtraum von heute ist. Wir leben in der gleichen Realität. Es sind immer noch Millionen Menschen kolonialisiert. Siedler*innenkolonien haben nicht aufgehört zu existieren. Auch viele neue Staaten kolonialisieren, deshalb gibt es nur neue Kolonialisierungen, die den alten Mustern und Ideologien unterliegen.Der Kolonialismus ist unausweichlich?Ja, durch den Kapitalismus. Man darf das nicht voneinander entkoppeln. Es gibt keinen modernen Kolonialismus ohne den Kapitalismus und es gibt keinen Kapitalismus ohne den Kolonialismus. Die Rohstoffe, die die Industrialisierung befeuerten, kamen aus den Kolonien. Auch heute noch dienen die Bewohner*innen und das Land der Kolonien den Kolonialmetropolen als Rohstoffminen.Unterliegt die Verteilung von Rohstoffen und Ressourcen einem kolonialen Gestus?Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, dass die vielen Unabhängigkeitserklärungen des 20. Jahrhunderts dazu geführt haben, dass wir in einer anderen Weltwirtschaft aufgewacht wären. Die ungleiche Verteilung von Impfdosen, das europäische Horten von Impfstoffen und das Nicht-Freigeben von Patenten folgt jenen Linien, die historisch wie auch gegenwärtig zwischen Habenden und Nichthabenden, Ausbeutenden und Ausgebeuteten, Weißen und Nicht-Weißen unterscheiden.Apropos Ausbeutung: Wie bewerten Sie die Debatten über die Rückgabe und Restitution geraubter Kulturgüter?Das Problem ist in meinen Augen das Museum als Konzept und nicht die Frage, in welchem Museum Kulturgüter ausgestellt werden. Die Benin-Bronzen sind von einem Museum in ein anderes gewandert. Mich stört die Musealisierung der Welt, in deren Folge Gegenstände und Objekte der Umwelt entzogen werden. Im Humboldt-Forum liegen unzählige religiöse Artefakte, die aus Tempeln stammen, aber Beten ist dort verboten. So hat man* Menschen von ihrer eigenen Kultur und Geschichte entkoppelt und Materialien, die den Gezeiten ausgesetzt erodieren würden, zu zeitlosen Konservaten manipuliert.Progressiver wollte die Documenta 15 sein. Perspektiven des globalen Südens sollten im Mittelpunkt stehen. Am Ende wurde nur über Antisemitismus diskutiert. Was ist da schief gelaufen?Ich lese das als Kollision der deutschen und nichtdeutschen Realitäten. Dass es sich um antisemitische Motive handelt, ist unstrittig, dementsprechend gehörten sie von Anfang an entfernt. Aber es ist tragisch, wie viele andere Künstler:innen und Kollektive nicht mehr zu Wort gekommen sind. Deren kritische Interventionen und Arbeiten wurden durch die deutsche Debatte vollkommen irrelevant. In meinen Augen war das einmal mehr der verzweifelte Versuch der Deutschen, zu negieren, dass es etwas gibt, das nicht nur sie selbst betrifft. Dass es Welten gibt, in der sie nicht das Zentrum der Gefühle sind. Dass auch Andere Geschichten und Bezüge zu diesen Welten haben, die über die hiesigen Geschichten hinausgehen. Und dass Andere nicht die Verantwortung für die deutschen Verbrechen tragen.
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