Ihm glaubte ich in Sachen Literatur alles und fast ohne Widerstand, obwohl er eine Vorliebe für die fantastische Imagination und das Anekdotische in seinen Feuilletons und Büchern nie verheimlichte. Einmal ließ er den Klassiker-Staatsminister Goethe, der selbst viel schrieb und sonst köstlich dilettierte, über den „Frankfurt Hauptbahnhof“ sinnieren, obwohl der zu dessen Lebzeiten noch gar nicht gebaut war. Vorwand, Fritz J. Raddatz als Feuilletonchef der Zeit loszuwerden.
Aber niemals sträubte ich mich, seinem Rat zu folgen, zumal er selten im Modus der Aufforderung, „Lest das!“, antrat. Wie sein feuilletonistisches Alter Ego, Marcel Reich-Ranicki, war mir F. J. R. ein Leselebensbegleiter. Einer, der wusste, dass Leben und Kunst nicht unterbrechbar und noch viel weniger berechenbar sind. Beides geschieht vor allem und tickt immer weiter. Daher schrieb er, in Deutschland sei nahtlos weiter gedichtet worden, selbst als alles in Scherben fiel. Wo furchtbare Juristen weiter richteten und Karrieren machten, wo Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Kurt Tucholsky, Heinrich und Klaus Mann erst wieder heimisch werden mussten, neben Lübecker Zauberbergen und Leckereien, war das so. Es gab keine Stunde Null für die deutsche Nachkriegsliteratur.
Wer Raddatz las, begriff das und konnte Benn, Böll, Eich, Weyrauch, Andersch, Seghers, Schmidt, Schnurre, Grass, Koeppen, Bachmann, Huchel, später Walser, Hochhuth, Rühmkorf, Handke, Hans Christoph Buch und Nicolas Born, Heiner Müller und Christa Wolf, nebeneinander dulden.
Wie sein akademischer Lehrer, der homosexuelle, jüdische Literaturwissenschaftler Hans Mayer, liebte Fritz J. Raddatz die Außenseiter und jene, die die Literatur auch an die Ränder der Welt und der Existenz trieben: Genet, Cioran, Malaparte, Hubert Fichte, Peter Paul Zahl.
Wer ahnt, dass der Mississippi am Pont Neuf beginnt, der flunkert berufsmäßig, damit sich die Erfahrungswelt des Lesers weitet und den Wortfluten auf Papier in den immer unverständlichen Süden folgt. Fritz J. Raddatz war mir ein mitteilsamer Weltreisender zu ungewöhnlichen Menschen und Orten, ein sprachbildmächtiger Berichterstatter. William Faulkner hieß einer seiner vielen Leitsterne. Ein anderer, ebenso Wanderer zwischen Europa und Amerika, heute vergessen, James Baldwin.
Die Bestie ist auch literarisch tierisch. Also gab es ein Bestiarium von Raddatz’ Schreibtisch, der darin dem Beispiel Franz Bleis folgte: Günter Grass ein Aal, Elfriede Jelinek eine Möwe, die unappetitliche Trouvaillen suchend über dem Prater kreist. Er selbst tritt als Prachtleierschwanz nahe dem Schanzenviertel Hamburgs auf. Das seltsame Tier, ein Rara Avis, hat auch unangenehme Eigenheiten, kann äffen, spotten und nachahmen.
Tierisches tat es ihm an. Taubenherz und Geierschnabel lautet der Titel seiner Heinrich-Heine-Biografie. Kuhauge heißt eine Erzählung. Schon da, wie in den später publizierten Tagebüchern und Unruhe stiftenden Erinnerungen, steht, literarisch dann auch auf Effekt getrimmt, viel von Fritz J. Raddatz’ eigenen, traumatischen Lebensanfängen.
Vom Anfang zum Ende: Was könnte tiefer, rätselhafter sein, gerade weil es nichts zu erkennen gibt, nur Platz für Ahnungen bleibt, als der Blick in das Auge einer Kuh? Steht da nicht das Versprechen einer große Ruhe, eines unergründlichen und unerschütterlichen Rechts auf das eigenartige Leben, die eigenwillige Natur, ohne jeden Rechtfertigungszwang, auf ein ewiges Jetzt, ein Sein im Nu, scheinbar ohne Leiden? Letztes Quartier nun, dem großen Kuhauge.
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