Für sie ist Putin ein attraktiver Mann, sagt Irina Orlowa. „Er ist charmant, stets höflich und sehr redegewandt. Aber wählen würde ich ihn nie.“ Die 53-jährige Verkäuferin sitzt an der Kasse in einem russischen Supermarkt in Berlin-Charlottenburg. Hunderte Wodkaflaschen in ihrem Schaufenster versperren ihr die Sicht auf die Kantstraße. Putinka, eine der Sorten, gehe im Moment schlecht weg, erzählt sie. Nur Deutsche kaufen sie.
Der Laden, in dem sie arbeitet, wirkt ein bisschen miefig, als sei die Zeit in den Neunzigern stehengeblieben. Wie Irina Orlowa kamen damals, nach der Wende, die meisten Immigranten nach Berlin, jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche. Sie flüchteten aus der Armut und vor Repressionen. Orlo
onen. Orlowa besitzt, wie die meisten ihrer russischen Kunden, die deutsche Staatsbürgerschaft. Von ihrer alten Heimat hat sie sich entfremdet, sagt sie. Verbindung hält sie mithilfe des Satellitenfernsehens. ORT, den russischen Staatssender, schaut sie täglich. „Die Indoktrination, die dort die ganze Zeit läuft, ist unerträglich“, schimpft Irina. „Putin hier, Putin da, Putin im U-Boot, Putin im Löschflugzeug. Einfach lächerlich.“Trotzdem kleben auch die anderen Exilrussen vor dem Fernseher. Insider berichten, dass jede politisch relevante Sendung mit dem Kreml abgesprochen ist, auch wenn sich durch den Druck der Straße die Opposition mittlerweile äußern darf. Erst wird das Dringlichste des Tages gezeigt, dann das Tagesprogramm des Noch-Präsidenten Dmitri Medwedew. Als Drittes folgt ein langer Bericht über Wladimir Putin, oder eine Reportage, wenn eine vom Kreml finanzierte Pro-Putin Demonstration in Moskau stattfindet. Am Ende folgen Sport und Wetter.Kaminer ist nur ein Klischee Bei „Russkij Berlin“, dem einzigen russischsprachigen Radiosender Deutschlands, meidet man das Politische. In den Sendungen dominieren russische Schlager und Diskussionen aus dem Showbiz.Evgenij Smishlaew, Programmdirektor, bedauert dies: „Unser Unternehmen will sich nicht in die Politik einmischen“, sagt er, ein Mittvierziger mit Brille und Pferdeschwanz. „Wir wollen unsere guten Beziehungen zur russischen Botschaft nicht unnötig belasten. Wir informieren natürlich unsere Hörer über alle wichtigen Ereignisse, die in Russland stattfinden. Aber die politische Diskussion gehört nicht zu unserem Programm“. Er selbst möchte wählen gehen, aber welchen Kandidaten, das sagt er nicht.In Deutschland haben Russen nicht den besten Ruf, weil die Intelligenzija hier nicht mehr so präsent ist. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Berlin Schriftsteller und Künstler wie Boris Pasternak, Wassily Kandinsky oder der Schriftsteller Maxim Gorki. Heute kennt man nur Mafiaserien und den Spaß-Party-Autoren Wladimir Kaminer. Er spielt mit russischen Klischees, auch wenn sie nicht mehr stimmen. Viele Russen sind mittlerweile wohlhabend und haben unauffällig ihren Platz in der Gesellschaft gefunden.Sergey Medwedew weiß, wo seiner im Moment ist. Der großgewachsene 28-Jährige schaut kein russisches Fernsehen, und er hört auch kein Radio. Vor drei Jahren kam er aus dem russischen woronesch für ein Politikwissenschaftsstudium nach Berlin. Seine Wohnung ist spartanisch eingerichtet, seine Freundin serviert Tee und Kekse. Medwedew informiert sich in Netzzeitungen, Blogs und dem oppositionellen Internetsender Doschd über aktuelle Ereignisse. Und er ist selbst politisch aktiv. „Als die Arbeitgeber meiner Eltern verlangten, dass sie für Einiges Russland stimmen, war bei mir das Maß voll“, sagt Sergey. Er wurde Beobachter bei den Dumawahlen im Dezember in der Berliner russischen Botschaft, dort habe er keine Unregelmäßigkeiten festgestellt. Aber dann kamen die dokumentierten Manipulationen aus Russland – Wahlurnen, die vor Eröffnung des Wahllokals mit Stimmzetteln gefüllt waren. Oder die Berichte von Angestellten, die nicht geheim wählen durften. „Die Macht spuckt dem Volk ins Gesicht.“ Sergey hat mit Freunden gesammelt und kaufte davon so viel Wodka und Kaviar, wie er kriegen konnte. Sie organisierten ein Event mit Live-Bands und Filmen über die Proteste in Russland. Wodka und Kaviar gab es umsonst, das Geld sollte durch die anschließende Auktion wieder reinkommen, auf der gespendete Bücher und DVDs versteigert wurden. Der Plan ging auf.Die Demo als Mode Von den Erlösen wurden Flyer für eine Demonstration für freie Wahlen gedruckt. Trotz eisiger Temperaturen konnte er etwa 200 Exilrussen mobilisieren, die vor die russische Botschaft kamen.Auf deren Transparenten stand beispielsweise: „Ich wähle den anderen Abschaum“. Sergey sieht das ähnlich: „Sollte es zu einer zweiten Runde nach dem 4. März kommen, werde ich jeden wählen außer Putin. Und sei es der Steinzeitkommunist Sjuganow. Russland braucht einen Machtwechsel.“ Doch der Funke zündet nicht bei jedem Exilrussen. Lena Woronina schwört auf Putin. Die gebürtige Moskauerin studiert am MGIMO, der russischen Kaderschmiede für künftige Diplomaten. Sie redet, als ob sie das Parteiprogramm auswendig gelernt hätte. In einigen Jahren will sie im Außenministerium arbeiten. Das System Putin gibt ihr Halt. In den Protesten sieht sie eher eine Modeerscheinung. „Die meisten dieser Demonstranten gehen nur hin, weil es gerade ,in‘ ist.“ Putin aber stehe für Stabilität.Mehr als zwei Millionen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion leben in Deutschland. Etwa 500.000 von ihnen sind wahlberechtigt. Die meisten lassen ihre Stimme verfallen, weil sie sich mehr als Deutsche fühlen. Die Kinder der Immigranten sprechen perfekt Deutsch, aber nur gebrochen Russisch. Ihre Heimat ist ihnen fremd geworden.