M it dem „Virus lernen zu leben“, hat sich als politische Maxime bislang (noch) nicht durchgesetzt. Vielmehr gab und gibt es vor allem zwei Ziele: die Ausrottung des Virus oder seine Unschädlichmachung durch Vakzine. Während Zero-Covid-Strategien abseits von Inseln keine Umsetzung gefunden haben, ist der dauerhafte Erfolg der Impfungen noch ungewiss. Zwar ist der Wunsch nach möglichst vollständiger Vermeidung von Covid-19 verständlich, doch spiegelt sich darin auch die Hybris der abendländischen modernen Kultur – ihr Streben nach totaler Kontrollierbarkeit der inneren und äußeren Natur.
Zugrunde liegt diesem Streben die „cartesische Trennung“ von Subjekt und Objekt, Geist und Materie. In dieser großen Fiktion des neu
on des neuzeitlich-modernen Menschen versteht sich dieser nicht als Teil einer mit ihm verbundenen Mitwelt, sondern halluziniert sich als von seiner Umwelt getrennt und gestaltet seine Weltbeziehungen als Beziehungen der Beherrschung einer verfügbar zu machenden (feindlichen) Natur. Und obwohl neuzeitliche Wissenschaft und Technik diesen Transformations- und Kontrollglauben immer wieder materiell bestätigten, erfuhr sich das nach Allmacht strebende moderne Subjekt auch als ein, wie es sein Name sagt: unterworfenes, als fremdbestimmtes Objekt seiner selbst und der Welt – und nahm dies als narzisstische Kränkung wahr. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter nannte das einst den „Ohnmachts- und Allmachts-Komplex“ des modernen Menschen. Das jüngste Kapitel in dieser Kränkungsgeschichte schreibt nun SARS-CoV-2.Dahinter liegt wiederum die ultimative Kränkung des modernen Subjekts: der Tod. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Tod auch in Europa noch eine soziale, öffentliche und sichtbare Angelegenheit des Lebens gewesen. Doch bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte im Zuge der medizinisch-hygienischen Entwicklung seine Tabuisierung eingesetzt und hat er ohne Aussicht auf postmortales Paradies in der atheistischen Moderne an Schrecken gewonnen. Für das moderne Subjekt bleibt nur das (eine) nackte Leben – und ist der Tod ein zu verdrängendes Skandalon, hinter Altenheimbeton versteckt, privatwirtschaftlich outgesourct. Pflegekonzerne erwirtschaften Profit für Aktionäre, unterbezahlte Pflegelohnsklaven erhalten Applaus vom Balkon.Dem Umgang mit Sterben und Tod entfremdet und durch eine Politik der Angst verunsichert, konnte so der Eindruck entstehen, dass ein Großteil der Bevölkerung bereit wäre, das Leben im Extremfall dem Überleben zu opfern, wenn es die Umstände erfordern. Zu welchem Preis? Eine vollständig risikofreie und kontaktlose Gesellschaft wäre eine Gesellschaft der Untoten, der Zombies. Viren wie SARS-CoV-2 wären dann vielleicht tatsächlich eradiziert, doch wir selbst wären wie ein Virus geworden: weder lebendig noch tot – des Menschseins amputiert, automatisiert versorgt in Plexiglas-Kapseln mit Flüssignahrung und virtueller Realität. Dies ist – zugegeben – eine zugespitzte Extrapolation, doch der Weg in eine durchdigitalisierte und „versicherheitlichte“ (Kontroll-)Gesellschaft ist längst keine Science-Fiction mehr. Eine Extremform solch utopisch-dystopischer Technozukünfte propagiert der sogenannte Transhumanismus, der mit Namen wie John Spencer oder Eric Drexler verbunden ist. Für seine Vertreter ist der Mensch ein Mängelwesen, dessen größter Makel sein sterblich-organischer Körper ist. Dieser soll mit technischen Mitteln überwunden und der Mensch in eine neue, unsterbliche Spezies überführt werden.Für eine andere linke KritikFür uns (noch) Sterbliche gilt jedoch zu bedenken, dass, zumindest in menschlichen Kategorien gedacht, Unsterblichkeit mehr Fluch als Segen bedeuten würde. Denn in der dialektischen Einheit von Leben und Tod raubt die Sterblichkeit dem Leben nicht nur scheinbar den Sinn, sondern sie schenkt ihn ihm auch: Erst durch ihre Begrenztheit und Einmaligkeit erhalten die Erfahrungen des Lebens ihren unverwechselbaren Wert. Damit ist nun nicht „sozialdarwinistisch“ für „bloßes Nichtstun in Akzeptanz der Sterblichkeit“ plädiert, sondern für die Anerkennung der Realitäten: Es gibt leider (Infektions-)Krankheiten, die wir nicht um jeden Preis vollständig besiegen können. Denn Lockdowns sind auf Dauer nicht tragbar und kosten ebenfalls Lebenszeit.Doch obwohl die Lockdown-Politik die soziale Ungleichheit massiv erhöht hat und Armut, Angst und Stress auch zu vorzeitigen Toden führen werden – wir es also mit einem ethischen Dilemma und einem mehr oder weniger unausgesprochenen Klassen- und Generationenkonflikt zu tun haben –, hat sich auch die politische Linke der Lockdown-Politik weitestgehend angeschlossen. Eine Erklärung dafür ist, dass der Freiheitsbegriff der herrschenden (neoliberalen) Ideologie – und die große Trennung von Mensch und Natur – von den Herrschenden im Falle Coronas indirekt als Fiktion anerkannt wird: Individuelle Handlungen sind oft keine rein individuellen Handlungen, sondern haben immer kollektive Bedingungen und Auswirkungen.Hier läge die Chance und Aufgabe einer linken Kritik: Nicht nur könnte gefragt werden, warum zur Vermeidung anderer vorzeitiger Tode vergleichsweise wenig unternommen wird – obwohl dies ohne die gleichzeitige Erzeugung vorzeitiger Tode möglich wäre –; mit einem ganzheitlichen Blick auf Gesundheit und Leben, in dem wir uns auch über Corona hinaus als Verbundene und aufeinander Angewiesene verstehen, könnte auch die Perspektive einer Politik planetarischer Konvivialität jenseits pharmakologisch-technischer Kontrollfiktionen eröffnet werden: Entgiftung und Erhalt der Biosphäre, gesündere Lebensmittel und eine gerechtere Vermögensverteilung – verstanden als nachhaltiges Covid-19-Eindämmungsprogramm und Wahrung des (künftigen) Lebens auf der Erde in seiner untrennbaren Ganzheit.Placeholder authorbio-1