Der argentinische Krimi-Autor Ricardo Ragendorfer: Dem Verbrechen so nah
Porträt Diebe, Spitzel, Massenmörder: Für seine Recherchen scheut Ricardo Ragendorfer sich vor nichts. Das machte den Sohn österreichischer Juden zu einem der bekanntesten Krimi-Autoren Argentiniens
Ricardo Ragendorfer sieht verkatert aus. Seine geröteten blauen Augen ruhen auf geschwollenen Augenschatten, die faltige Stirn wird von einer Vollglatze gekrönt. Kein Wunder, so manche Nacht verbringt der Kriminalreporter und Schriftsteller vor dem Computer und schreibt. Dort findet auch das Gespräch statt, per Video. Ein Treffen in seinem Stammcafé, dem Café Aconcagua in Buenos Aires, hat in letzter Minute doch nicht geklappt.
Ragendorfer ist einer der bekanntesten Autoren von Kriminalliteratur in Argentinien, das reich ist an prominenten Vertretern des Genres: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts Juan José de Soiza Reilly, dem Gustavo Germán González und Ragendorfers Vorbilder Rodolfo Walsh und Juan Carlos Novoa folgten. In der Gegenwart brillieren Claudi
ren Claudia Piñeiro, Paula Rodríguez, Gabriela Saidón und Ana Llurba. Was hingegen Ragendorfer von vielen unterscheidet und auszeichnet, ist sein Vorgehen bei der Recherche: Er sucht geradezu die Nähe zu korrupten Polizisten, Mördern und Militärs. Allerdings mit dem vom Reporter erwünschten Abstand: „Ihr bleibt bitte da und ich bleibe hier.“Nachdem er 1992 sein erstes von bisher elf Büchern veröffentlicht hatte – es handelte von Diebstahl und Fälschung von Kunstwerken in Argentinien – , begann er zusammen mit seinem Kollegen Carlos Dutil die kriminellen Praktiken der Polizei der Provinz Buenos Aires zu recherchieren und zu dokumentieren. Die nicht ungefährliche Recherche mündete in dem Buch La Bonaerense (1997), dessen Titel den umgangssprachlichen Namen der dortigen Polizei aufgreift, und wurde mit La Secta del Gatillo (sinngemäß: die Revolver-Sekte) fortgesetzt. La Bonaerense wurde 2002 außerdem verfilmt, was Ragendorfer einem größeren Publikum bekannt machte.Herbst der MassenmörderAls Reporter arbeitet Ragendorfer derzeit hauptsächlich für die staatliche Nachrichtenagentur Telam. Die Kriminalität, sagt er, ist als Phänomen weitaus flächendeckender, als es die Ermittlungen eines Polizeireviers offenbaren. Das Verbrechen sei im gesamten Staatsapparat in Lateinamerika, vor allem in der Polizei, im Militär und in der Justiz, eingenistet. Seine 2018 erschienene Chroniken-Sammlung El Otoño de los Genocidas (dt. Der Herbst der Massenmörder) liest sich wie eine argentinische Variante von Hannah Arendts Buch über die Banalität des Bösen. In den journalistisch akkurat recherchierten Texten defilieren Vertreter der letzten argentinischen Millitärdiktatur (1976 – 1983) in wechselnden Rollen als hingebungsvolle Familienväter und Folterknechte des Staatsterrors, der 30.000 Menschen auf dem Gewissen hat.Ricardo Ragendorfer landete nur zufällig im Journalismus, woraus seine literarische Tätigkeit quasi logisch hervorging. Als Mitglied der Jugendorganisation der peronistischen Guerrilla-Bewegung Montoneros, die von der Militärdiktatur brutal zerschlagen wurde, floh er nach Mexiko ins Exil. „Da ich keine journalistische Vorbildung hatte, habe ich die meiste Zeit gelesen“, erzählt er über seine ersten Monate in Mexiko-Stadt. Um Geld zu verdienen, wurde er in der Lokalredaktion der spanischen Zeitschrift Interviú vorstellig und bekam von dem ebenfalls exilierten argentinischen Journalisten Carlos Ulanovsky den Auftrag, über den Lärm in der Stadt zu schreiben. Mit einem geliehenen, übermäßig großen und umständlichen Dezibel-Messgerät machte er sich auf den Weg. Danach blieb er dem Magazin als Assistent des Journalisten Pedro Álvarez del Villar erhalten. Eine Aufgabe, die darin bestand, so erzählt er lachend, Álvarez nach Hause zu bringen, wenn er zu viel getrunken hatte.Zurück in Argentinien nach dem Ende der Diktatur schrieb er für namhafte argentinische Tageszeitungen und Wochen- und Monatsmagazine wie Sur oder Página/30, eine Beilage der linken Tageszeitung Página/12. Aufgrund eines „Immobilien-Umstands“, wie er spöttisch sagt, begann seine Karriere als Autor von Kriminalgeschichten vor dreißig Jahren mit seinem Umzug nach San Telmo, einem im historischen Kern von Buenos Aires gelegenen Stadtteil, der lange heruntergekommen war, bevor das touristische Potenzial seiner Altbauten entdeckt und ausgeschlachtet wurde. Bei Unterhaltungen mit Nachbarn erfuhr er, dass nicht wenige von ihnen sich nicht gerade legalen Geschäften widmeten. Die Geschichten faszinierten ihn dermaßen, dass er sie unter Wahrung der Geheimhaltung seiner Quellen veröffentlichte. Die damalige Kulturzeitschrift El Porteño schlug ihm daraufhin vor, Porträts von Polizeispitzeln, Drogendealern, Zuhältern und Kleinkriminellen zu schreiben.„So fing alles an“, erzählt der Reporter oft bei seinen Auftritten. Mit seinem Hunderte von Chroniken, fast ein Dutzend Bücher und ebenso viele Fernseh- und Filmproduktionen umfassenden Werk wird Ragendorfer als außergewöhnlicher Geschichtenerzähler und „Dekan für Polizei-Journalismus in Argentinien“ gefeiert. Argentinische Medien bezeichneten ihn bereits vor Jahren als eine Raymond-Chandler-Figur im Buenos Aires des 21. Jahrhunderts. Gemeint war wohl dessen Privatdetektiv Philip Marlowe.Ragendorfer ist der Sohn österreichischer Juden, denen kurz vor der Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich 1938 die Flucht gelang. „Sie flüchteten nach Bolivien, weil es damals das einzige Land war, das Einreisevisa an flüchtende Juden ausstellte, Argentinien erst Jahre später“, erzählt er. Andere Mitglieder der Familie hatte nicht das Glück und wurden in die deutschen Vernichtungslager verschleppt und ermordet.In Bolivien kam 1957 Ricardo zur Welt und wuchs zweisprachig auf – wobei er Spanisch mit deutschem Akzent lernte, bis er sich für das Spanische als Berufssprache entschied und, wie er sagt, „aufhörte, ein Fremder zu sein“. Dass er das Deutsche seitdem verdrängt hat, könnte allerdings andere Gründe haben. Denn unschuldig war das Umfeld der Deutschsprachigen in jenen Jahren nicht, was für Ragendorfer zu einem schockierenden Erlebnis führte.Sein Vater Paul, der zunächst eine Wechselstube in La Paz betrieb, hatte mit befreundeten Exiljuden ein Gut mit Sägewerk in der Wildnis von Los Yungas gekauft, das die Familien auch zur Wochenend-Erholung nutzten – und das zu ihrer Verwunderung von einem gewissen „Klaus Altmann“ verwaltet wurde. Im Jahr 1960 wurde das Sägewerk verkauft und die Ragendorfers siedelten nach Buenos Aires um. Eines Tages, im Jahr 1971, rief Ricardos aufgeregte Mutter mit einer Tageszeitung in der Hand die Familie zusammen: „Hier, guckt euch das an!“ Auf der Titelseite grinste der enttarnte „Klaus Altmann“. Es war SS-Hauptsturmführer Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“ genannte Gestapo-Chef, verantwortlich für Tausende Deportationen und Morde. Wie so viele Nazi-Kriegsverbrecher war er auf den sogenannten Rattenlinien vom Vatikan geschützt und mit falschen Pässen des Roten Kreuzes ausgestattet in Südamerika untergetaucht.Freundliche Nazis„So absurd es auch klingen mag, wir erlebten Barbie als ausgesprochen freundlichen bis liebenswürdigen Menschen. Nicht selten nahm er mich als Dreijährigen auf seine Arme oder bei Spaziergängen bei der Hand“, erzählt Ragendorfer. 50 Jahre ist die Enttarnung Barbies inzwischen her, 1983 wurde er nach Frankreich ausgeliefert und 1987 zu lebenslanger Haft verurteilt. Ragendorfer sagt, er habe das Schockerlebnis – die absurde Normalität des Zusammenlebens von jüdischen Flüchtlingen und Nazi-Kriegsverbrechern, also von Opfern und Tätern im Exil – lange Zeit verdrängt. Erst jetzt wage er es, jene Erinnerungen in einem Projekt aufzuarbeiten, mehr will er noch nicht verraten.Ragendorfers Bücher sind leider bis heute nicht auf Deutsch erschienen, aber wie wird denn überhaupt aus einer Recherche ein Buch? Das wisse man nie genau, sagt er. Doch es gebe Fälle, „die mehrere Artikel oder Reportagen erfordern, und damit nimmt das Buch ungewollt Gestalt an“. Etwas poetischer ausgedrückt: „Es gibt da einen Punkt, wo das Buch schreiend darum bittet, geschrieben zu werden.“ Dabei habe er zwei Tricks gelernt: „Zum einen muss sich der Autor darum bemühen, die Leser davon zu überzeugen, dass es sich bei dem Stoff um eine reale Geschichte handelt. Und umgekehrt besteht der Erfolg des guten Kriminal-Reporters darin, den LeserInnen das Gefühl zu vermitteln, sie lesen eine frei erfundene Geschichte.“Placeholder authorbio-1
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