Dem Wohle der Allgemeinheit dienen

Eigentum Laut Grundgesetz ist Gemeinwirtschaft der Marktwirtschaft ebenbürtig
Ausgabe 35/2020
„Eigentum verpflichtet“ meinte das Grundgesetz ernst. Die Bundesrepublik drückt nur allzu oft ein Auge zu
„Eigentum verpflichtet“ meinte das Grundgesetz ernst. Die Bundesrepublik drückt nur allzu oft ein Auge zu

Foto: Imago Images/IPON

Ist das nicht verboten? So lautete 2018 die erste Reaktion auf das Volksbegehren zur Vergesellschaftung von Immobilienunternehmen in der Hauptstadt. Alle Wohnungskonzerne, die mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin halten, in Gemeineigentum überführen? Undenkbar. Diese Denkblockade belegt vor allem eins: Geschichtsvergessenheit. Denn das Grundgesetz von 1949 sieht eine Vergesellschaftung nicht nur als Mittel, sondern als Zweck vor.

In zwei Artikeln ist der derzeit geltende Verfassungskompromiss zum Thema Eigentum festgehalten. „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“, so beginnt Artikel 14. Ginge es nach der FPD, wäre nicht mehr zu sagen. Doch im selben Absatz folgt ein „aber“: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Dementsprechend sieht Artikel 14 auch Enteignungen vor, unter drei Bedingungen: erstens zum Wohle der Allgemeinheit, zweitens nur per Gesetz und drittens muss „unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ entschädigt werden. Gedacht ist Artikel 14 für konkretes Einzeleigentum, etwa Gründstücke. Ob Autobahn, Deich oder Eisenbahntrasse – in Deutschland wird für größere Infrastrukturen permanent enteignet. Jede kapitalistische Wirtschaft braucht Enteignungen, um das Gesamtinteresse des Kapitals gegen das Einzelinteresse eines Eigentümers durchzusetzen.

Was fehlt, ist – Mut

Oft genug freut sich dabei ein Einzeleigentümer: Enteignungen für den Braunkohleabbau etwa kommen privaten Energiekonzernen zugute. Diese Praxis zeigt, dass Artikel 14 bisher eine deformierte Anwendung findet: Das „Allgemeinwohl“ ist mit privaten Interessen verquickt, bei der Nutzung des Eigentums spielt die Bindung an das Gemeinwohl dagegen kaum eine Rolle.

Gemeint war das anders. Dies belegt Artikel 15, der zweite Teil unseres Verfassungskompromisses zum Eigentum. Er befasst sich mit ganzen Eigentumskategorien: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können (…) in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Dies kann geschehen „zum Zwecke der Vergesellschaftung“. Anders als in der bisherigen Praxis sind Enteignungen nicht nur für Braunkohle, Autobahn oder Atommüllendlager erlaubt. Artikel 15 gesteht Gemeinwirtschaft und Gemeineigentum Verfassungsrang zu. Es ist möglich, ganzeIndustriezweige in Gemeineigentum umzuwandeln oder eine Bodenreform durchzuführen. Und zwar nicht nur als Ultima Ratio. Das Grundgesetz nennt Vergesellschaftung als Zweck – und erkennt Gemeinwirtschaft als eine der Marktwirtschaft ebenbürtige Wirtschaftsform an.

Dies hat seine Ursachen in einer Skepsis gegenüber dem Markt, die unter dem Eindruck der Verheerungen des Ersten Weltkrieges bereits 1919 Eingang in die Weimarer Verfassung fand – auch hier gab es mit Art. 156 einen Sozialisierungsartikel. Diese Skepsis war nach dem Zweiten Weltkrieg noch größer. Auch das Grundgesetz sieht daher Vergesellschaftung als notwendigen Bestandteil von Demokratie. Durchgeführt wurde sie jedoch nie. Sowohl nach 1919 als auch nach 1949 erfolgte eine Restauration des Privateigentums. Juristisch hat sich jedoch nichts geändert: Jedes Bundesland kann vergesellschaften. Nötig wäre es, nicht nur auf dem Wohnungsmarkt – es fehlte bisher nur der politische Mut.

Ralf Hoffrogge ist Historiker und aktiv bei der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen

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