Wir alle haben Freiheit, Frieden und Einheit gewonnen. Insbesondere evangelische Kirchen haben in inspirierender, ermutigender und orientierender Weise am Befreiungsakt des Volkes von einer ebenso verknöcherten wie machtbesessenen Parteiriege mit wirklichkeitsresistenter Ideologie mitgewirkt. Obwohl sie längst nicht mehr Volkskirche waren, wurden sie in den gefährlichen Wochen des Herbstes 1989 zur „Kirche des Volkes“. Kirchen wurden Orte für den Wiedergewinn von Mündigkeit. 40 Jahre mundtot Gemachte erhoben ihre Stimme, erhoben sich aus ihrem Kriechgang, gingen selbstbewusst auf die Straßen und schüttelten gewaltig-gewaltlos ein drückendes System ab.
In den Kirchen war vierzig Jahre lang Widerstand gelebt und widerständiges, gewissen
, gewissensorientiertes, kritisches Denken eingeübt worden. Dabei führten sie zahlenmäßig eher ein Winkeldasein, waren aber als Institutionen die einzigen vom Staat kaum erreichbaren Lebensorte. Die Entkirchlichung war weit vorangeschritten: durch staatlichen Druck, staatliche Propaganda und durch eine Entfremdung von der Kirche als „überlebter“ Institution wie vom christlichen Glauben als verkehrtem Bewusstsein. Vieles davon reicht historisch mindestens bis ins 19.Jahrhundert zurück.Dennoch konnten Kirchen für viele Menschen Zufluchtsorte werden, eine Art Schutzmantelmadonna. Die bildhafte Rede des Jesus aus Nazareth vom Sauerteig, der in der Welt aufgeht, vom Salz, das in den Wunden brennt und von der Hoffnung, die in die Zukunft leuchtet, bekam durchaus praktische Bedeutung. Wer sich als Christ bekannte, gar offen am kirchlichen Leben teilnahm, wusste in der Regel, dass das nicht nur karriereschädigend, sondern auch karrierezerstörend sein konnte.Im totalitären Staat war die Zahl derer gering, die in innerer Freiheit ihrem Gewissen folgten, unabhängiges Denken offen praktizierten, Kontrastgemeinschaften suchten, die vom Staate geduldet, oft kriminalisiert und fies bespitzelt wurden. Wer in der DDR bekennender Christ war, musste sich schon genau überlegen, was er einzusetzen bereit ist. 1989/90 hat die Kirchen wieder zu anerkannten gesellschaftlichen Orten gemacht. Seitdem muss sich niemand mehr schämen, bewusster Christ zu sein. Die Kirchen wurden bürgerlicher, aber nicht bürgernäher. Sie erlangten eine Darstellungs- und Entfaltungsfreiheit, die weit über ihre statistische Bedeutung hinausgeht. Deutliches Anzeichen dafür ist der populär gebliebene atheistisch-marxistische Passageritus „Jugendweihe“, wenngleich die Zitate bei jenen Weihefeiern ausgetauscht wurden.Als Mitspieler angekommenNennenswerten Zuwachs haben die Kirchen nicht gewonnen. Viele, die eher aus (damals verborgenen antikommunistischen oder antitotalitären) Gründen in kirchlichen Gruppen engagiert gewesen waren, sind still verschwunden, in die Politik eingewandert oder haben sich selbständig gemacht. Für sie hat die Kirche ausgedient. Es gibt kaum mehr „überschüssiges Bewusstsein“. Kirchen werden als wertebildende Institutionen beschworen, bleiben aber praktisch fast irrelevant. Mit der Einheit gemäß Artikel 23 wurden volkskirchliche Strukturen auf die DDR übertragen. Eine kleine Weile frönte man der flächendeckenden Illusion. Das Ausmaß der Entkirchlichung wollte man nicht wahrnehmen. Der Rausch der vollen Kirchen im Herbst 1989 geriet zum Kater der Leere. Die Kirche konnte in Schulen gehen, um Religionsunterricht anzubieten, Pfarrer wurden Militärseelsorger. Christen sind gefragt in Ethikkommissionen, bei der Armutskonferenz. Sie sind finanziell durch Kirchensteuer und Staatsverträge in einer relativ komfortablen Situation. Sie sind in den demokratischen Staat eingebunden, können subsidiär Sozial-, Bildungs- und Kulturaufgaben übernehmen.In diesen zwanzig Jahren sind fast alle der verfallenden oder stark renovierungsbedürftigen Kirchen saniert worden. Kirchen sind außen sehr schön. Aber innen ziemlich leer. Sie sind vor aller Augen „wieder wer“. Doch wer sind sie? (Margot Käßmann repräsentierte einen ermutigenden Aufbruch, allfällige diplomatische Rücksichten unterlassend, klare Worte wagend.)Kirchen sind aufs Ganze gesehen in der Bürgergesellschaft als Mitspieler angekommen. Event ist gefragt, weniger das Engagement, Betreuung, weniger Motivierung. Wo das Bürgerliche dominiert, werden vornehmlich Meinungen moderiert, ohne eine eigene klar erkennen zu lassen. So wird Kirche zwar unideologisch, aber sehr mittig. Die Diakonie ist in ihrer christlichen Verwurzelung so gut wie gar nicht mehr erkennbar; sie gleicht ganz und gar den anderen Gesundheitseinrichtungen, ist in die Marktwirtschaft gewinnorientiert einbezogen. Gemeindediakonie indes wird nicht mehr für bezahlbar angesehen.Struktureller RückbauFür die Evangelische Kirche ist besonders hart gewesen, einen Absturz zu verkraften, nachdem man die Kirchen hoch gelobt hatte, weil sie von Suhl bis Kap Arkona den friedlichen Umbruch in der kritischen Phase weithin geleitet hatten. Jetzt ist sie eine in den Staat weithin eingebundene Institution ohne Fußvolk. Leuchttürme sollen helfen, auch Beraterfirmen, bis Sprache und Denken betriebswirtschaftlich werden. Kirche ist stark mit sich selbst beschäftigt, mit Struktur- und Finanzfragen. Bisweilen scheint es, hier würde das Nichts verwaltet. Sollte denn die Kirche nur in diktatorischen Zeiten ein Ort sein, an dem auch politische Fragen und gesellschaftliche Herausforderungen im Lichte des prophetischen und jesuanischen Zeugnisses diskutiert und befreiende Aktivitäten entwickelt werden?Die Kirche ist in die demokratisch-parlamentarische Gesellschaft eingewandert; sie ist wenig erlebbar als Orientierung schaffende, motivierende und den Einzelnen stärkende Kraft. Sie ist mit strukturellem Rückbau beschäftigt und weiß noch nicht richtig, wie. Sie steht in vielem vor Kommerzialisierungsproblemen. Die Wirtschaft nutzt den weithin völlig entleerten Festkalender schamlos für ihre Zwecke: Bereits ab September weihnachtet es sehr, in der Passionszeit stehen überall schon die Osterhasen herum. Da sich der Reformationstag nicht kommerzialisieren lässt, hat Halloween Einzug gehalten. Taufen sind weniger Bekenntnisakte als bürgerlich-festliche Ereignisse mit Feierlichkeitserwartung. Die Aufgaben für die Kirchen stellen sich in der globalisierten Welt in besonderer Weise: Suche nach Identitätsstiftendem, wo geistig-geistliche Heimat entsteht, wo eingeübt wird, was Toleranz in multikultureller Welt bedeutet.Traditionelle Aufgaben bleiben: eine Botschaft in die Zeit hineinzusprechen, ohne zeitgeistig zu werden, eine Gemeinschaft zu bilden, in der der Einzelne als Einzelner aufgehoben ist, ohne zu einem abgeschotteten Vereinsklüngel zu werden, einen Dienst an der Welt anzunehmen, sich den Leidenden, der stöhnenden Schöpfung, der Friedlosigkeit helfend zuwendend. Eine gänzlich politisierte Kirche wäre eine falsch etikettierte politische Parteiung – eine, die sich generell spirituell versteht, blickt in weltlose Innerlichkeit. Dem Protestantismus bleibt aufgetragen, Vernunft und Gefühl in gleicher Weise anzusprechen, um Ungebildete wie die Gebildeten unter ihren Verächtern zu gewinnen. Wer dem Zeitgeist nachjapst, steht nicht mehr in prophetischer Tradition.
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