Dem Ziel so fern

Porträt Mohamed Nasheed war vier Jahre Präsident der Malediven. Mit teils spektakulären Aktionen kämpfte er für Umweltschutz und Demokratie. Jetzt sitzt er in London im Exil
Ausgabe 22/2016

In der Lounge eines Londoner Hotels sitzt er uns gegenüber: Mohamed Nasheed, 49 Jahre alt, der politische Hoffnungsträger vor allem der jungen Generation auf den Malediven. Der Inselstaat im Indischen Ozean besteht zu 99 Prozent aus Wasser und gilt vielen als Traumreiseziel. Als Paradies für Taucher, Schnorchler und Meeresfans, in dem das Thermometer selten unter 29 Grad Celsius sinkt. Die meisten Dinge des täglichen Lebens müssen importiert werden: jede Limonadenflasche, jede Arznei und jeder Barrel Öl. Etwa 340.000 Einwohner leben in der islamischen Republik, über eine Million Touristen kamen im vergangenen Jahr – Tendenz steigend. Ein Flug aus Frankfurt am Main zur Hauptstadt Malé dauert knapp zehn Stunden. Was nur wenige in Europa bislang mitbekommen haben: Politisch brodelt es im Paradies, und zwar heftig.

Nasheed ist Meeresbiologe, in Liverpool ausgebildet, Vater zweier Töchter und Ehemann einer berufstätigen Frau, die in ihrer islamischen Heimat bewusst kein Kopftuch anlegt und sich westlich kleidet. Nasheed trägt beim Gespräch in London einen hellgrauen Anzug, ein weißes Hemd, eine gelbe Krawatte. Er spicht mit hoher Stimme, die sich manchmal fast zu überschlagen scheint, wenn es um sein Land und die dortigen Probleme geht.

Er kennt Einzelhaft und Folter

Jenseits des Luxustourismus, in der Hauptstadt Malé, kann man die andere, die dunkle Seite der Malediven besichtigen, schmucklose Wohn- und Bürotürme, zwischen denen es kaum Grünflächen gibt, dafür Unmengen an Motorrädern und überall Umweltverschmutzung. In den Straßen und Gassen drängen sich die Menschen, darunter viele schlecht entlohnte Arbeiter aus Bangladesch oder Nepal. Die Wohnungsmieten sind aberwitzig hoch, der Drogenkonsum ist ein Problem, das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Bandenkriminalität. Von einer Demokratie kann derzeit keine Rede sein. Der Begriff Autokratie passt, nicht nur nach Nasheeds Einschätzung, sehr viel besser.

Seine engagierte Freundlichkeit und seine Körperspannung verraten, dass Mohamed Nasheed vor Energie sprüht, noch immer. Von 2008 bis 2012 war er der Präsident des Inselstaats, der erste demokratisch gewählte Regierungschef der Malediven überhaupt. Damals feierte das ganze Land Nasheeds Wahlerfolg. Zuvor hatte der Autokrat Maumoon Abdul Gayoom über 30 Jahre lang alles kontrolliert. In dieser Zeit war Nasheed als Menschenrechtsaktivist tätig gewesen. Deshalb war er dem Gayoom-Regime ein Dorn im Auge. Er wurde für sechs Jahre inhaftiert, verbrachte 18 Monate davon in Einzelhaft und wurde auf der Gefängnisinsel Dhoonidhoo gefoltert.

Als er dann aber in einer Phase des kurzen Aufbruchs Präsident wurde, führte er zügig eine Krankenversicherung und Mutterschutzgesetze ein, außerdem eine kommunale Selbstverwaltung, einen Busdienst in Malé und Fährverbindungen zwischen den Inseln. Nasheed erließ ein neues Steuergesetz, um all das zu finanzieren: Erstmals mussten die Besitzer der Luxus-Ferienresorts Steuern zahlen. Vor allem kümmerte er sich um die Umwelt: „Wir wollten eine CO2-neutrale Gesellschaft aufbauen und darauf verzichten, fossile Energieträger zu verbrennen. Außerdem ist Öl für uns auf den Malediven sehr teuer. Wir dachten, dass Solar- und Windenergie für die Malediven gut machbar seien. Die deutsche Bundesregierung hat uns bei einigen Projekten unterstützt.“ Und was ist daraus geworden? „Der jetzige Präsident Yameen verfolgt eine andere Richtung und lässt nach Öl bohren“, sagt Nasheed.

International bekannt machte ihn eine Kabinettssitzung, die er auf dem Meeresgrund abhielt. Damit wollte er darauf aufmerksam machen, dass seine Heimat durch den Anstieg des Wasserspiegels – verursacht durch den Klimawandel – zu versinken droht. Sein Umweltengagement beim Klimagipfel 2009 in Kopenhagen, seine Verhandlungen mit anderen Inselstaaten und Indien sowie seine Rhetorik beeindruckten viele innerhalb der Weltgemeinschaft. Manche sahen in ihm den ersten echten „Klimapräsidenten“ der UNO. 2010 erhielt Nasheed den Umweltpreis der UNO, das US-Magazin Newsweek nahm ihn in die Liste der „10 besten Führer der Welt“ auf. Sein Charisma und sein unkonventionelles Auftreten hat er bis heute behalten.

2012 sei er dann aber aus dem Amt geputscht worden, sagt Nasheed – eine Einschätzung, die viele politische Beobachter teilen. Bei der Wahl ein Jahr später gewann er zwar den ersten Durchgang, verpasste aber die absolute Mehrheit. Das Oberste Gericht annullierte die Wahl unter fragwürdigen Umständen. Mehrere Wahltermine folgten, wurden verschoben, bis der jetzige Präsident Abdulla Yameen, ein Halbbruder des langjährigen Diktators Gayoom, als Sieger hervorging, unterstützt von konservativen islamistischen Gruppierungen. „Ich bin im Namen des Islam gestürzt worden“, sagt Nasheed, „man warf mir vor, unislamisch zu sein.“

Sein Amtsvorgänger, Diktator Gayoom, habe alle politischen Gegner unterdrückt. Die Religion sei damals eine der wenigen Möglichkeiten gewesen, sich gegen das Regime zu stellen. Mittlerweile sei daraus ein neues, sehr ernsthaftes Problem erwachsen, sagt Nasheed: „Heute haben wir mehrere Gruppen, die sich offen zum Islamischen Staat (IS) bekennen. Wir schätzen, dass etwa 200 Malediver in Syrien und im Irak für den IS kämpfen. Der Glaube an den Islam wird jetzt zunehmend als Werkzeug der Unterdrückung, als Mittel der Propaganda benutzt.“ Die Fundamentalisten säßen in der Einwanderungsbehörde, im Zoll, im Militär- und Polizeiapparat. „Sie versuchen unseren Staat von innen auszuhöhlen, wie eine fünfte Kolonne.“

Ende 2014 demonstrierten erstmals Sympathisanten des IS in Malé. Damals trafen wir auch Nasheed zum ersten Mal persönlich, noch in seinem maledivischen Büro, einem dunklen Atrium, ohne Vorzimmerdame, dafür mit jungen Männern: Bodyguards für einen schmächtigen Mann, der seit seiner Absetzung vom Präsidentenamt täglich bedroht wurde. Statt ergonomischer Sessel standen in seinem Büro weiße, verschlissene Plastikstühle, statt repräsentativer Machtsymbole fand sich viel moderne Technik: Smartphones und Tablets, mit denen Nasheed und die Mitarbeiter seiner Maledivischen Demokratischen Partei, MDP, über soziale Netzwerke für ihre Ziele kämpften. Auffallend viele junge Frauen zählten zu seinem Team, junge Leute mit technischem Know-how und Idealen. Sie glaubten an die Kraft der Demokratie, sagte Nasheed damals. Und das in einem Land, das von wenigen Reichen beherrscht wurde, die die meisten Malediver am Reichtum des Tourismus nicht teilhaben ließen. Und eben in einem Land, dessen Rechtssystem auf der Scharia basiert. Selbst Minderjährige können danach verurteilt werden. Als Straftaten nach Scharia-Recht gelten etwa Alkoholkonsum, Abfall vom Glauben, Unzucht und außerehelicher Geschlechtsverkehr.

Reiche Besucher, religiöse Herrscher

Ohne Urlauber stünden die Malediven schlecht da. Fast 30 Prozent des dortigen Bruttoinlandsprodukts werden inzwischen mit dem Tourismus erwirtschaftet. Die Besucher aus dem Ausland steuern mehr als 60 Prozent der Deviseneinnahmen des Inselstaats bei. Außerdem gehen mehr als 90 Prozent der Steuer- und Zolleinnahmen auf den Tourismus zurück.

Von den knapp 1.200 Inseln der Malediven sind nur 220 von Einheimischen bewohnt. Darüber hinaus sind in den vergangenen Jahrzehnten 87 weitere, zuvor menschenleere Inseln erschlossen worden – ausschließlich für Feriengäste, um dort weitere edle Resorts zu errichten. Zwischen der Einsamkeit der Urlauberstrände und dem Alltagsleben vieler Einheimischer besteht ein herber Kontrast. Mehr als ein Drittel der rund 340.000 Malediver lebt gedrängt in der Hauptstadt Malé. Mit einer Fläche von nicht einmal sechs Quadratkilometern ist Malé eine der am dichtesten besiedelten Städte weltweit. Schon vor knapp 20 Jahren wurde deshalb mit Plänen zur Landgewinnung für eine neue Vorstadt begonnen.

Der Islam ist die offizielle Staatsreligion der Malediven, das muslimische Glaubensbekenntnis ist die Bedingung, um die maledivische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Die öffentliche Ausübung jeder anderen Religion wird strafrechtlich verfolgt. Die Mehrheit der Bevölkerung gehört der sunnitischen Strömung des Islams an. In den Schulen ist der Islam heute zwingend das Hauptfach.

Jetzt, zwei Jahre später, da Nasheed sich nach London abgesetzt und die britische Regierung ihm vergangene Woche Exil gewährt hat, sind Repressionen gegen die politische Opposition wieder gang und gäbe auf den Malediven, sie gehören längst wieder voll zum Alltag. Ja, viele Oppositionsführer säßen nun in Haft oder aufgrund fadenscheiniger Beschuldigungen auf der Anklagebank, sagt Nasheed, etliche Journalisten verschwänden spurlos. „Unsere Regierung ist eine Bedrohung für die internationale Sicherheit“, sagt er. „Es gibt Machtmissbrauch, Geldwäsche, Menschen- und Drogenhandel, der Terrorismus wird bei uns finanziert, Menschen werden für den Dschihad in Syrien und im Irak rekrutiert. Wir haben es mit einer tickenden Zeitbombe zu tun!“ Er lebt nun im Exil, weil es immer wieder Übergriffe der Polizei auf ihn und die MDP-Anhänger gab. Das berichtet auch Amnesty International.

Vorläufiger Höhepunkt der Willkür: 2015 wurde der Meereswissenschaftler erneut verhaftet und zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Einen Verteidiger hatte man ihm während des Prozesses nicht gewährt, einer von Nasheeds vertrauten Anwälten wurde Opfer eines Attentats. Das Gericht in Malé begründete die Verhaftung damit, dass Nasheed während seiner Amtszeit gegen Anti-Terrorismus-Gesetze verstoßen habe. Tatsächlich hatte er als Präsident 2012 einen ranghohen Richter festnehmen lassen, wegen Korruptionsvorwürfen. Die Richter des Nachfolgeregimes urteilten, Nasheed habe den Richter damals „entführt“ und damit einen Terrorakt begangen. Von einem „politisch motivierten Scheinprozess“ spricht dagegen Amnesty International. Das UN-Menschenrechtskommissariat kritisierte das Verfahren als „unfair“ und die Verurteilung als „willkürlich“.

Vor wenigen Monaten, Ende Januar, erreichten die internationalen Menschenrechtsanwälte Amal Clooney, Ben Emmerson und Jared Genser, dass Nasheed mit seiner Familie aus medizinischen Gründen die Malediven verlassen durfte. Seither leben sie in der britischen Hauptstadt. Von dort beobachtet Nasheed die Lage in seinem Land weiter. „Meine Ausreise kam durch internationalen Druck zustande, weil sich Indien, die USA, Großbritannien und Deutschland für mich eingesetzt haben. Als der jetzige Präsident Abdulla Yameen mich verhaften ließ, hielt er sich noch für politisch stark genug. Aber inzwischen ist er zunehmend isoliert – von seiner eigenen Partei, dem Militär und der Polizei. Die Malediver gehen jetzt verstärkt auf die Straße und demonstrieren.“

Nasheeds Botschaft an den Westen: „Wir brauchen keine finanzielle Unterstützung. Es geht allein darum, vielleicht fünf Personen mit einem Aufenthaltsverbot in Deutschland und Europa zu belegen. Wenn das geschieht, wird das Regime zusammenbrechen.“ Einen Urlauber-Boykott der Malediven lehnt er ab, „weil er vor allem unsere Bevölkerung trifft. Meine Botschaft lautet deshalb: Besuchen Sie weiter die Malediven, kommen Sie zu uns!“ Es sind vor allem wohlhabende Wellness-Touristen, die sich in luxuriösen Resorts auf den Malediven verwöhnen lassen. Doch in die Hände der maledivischen Familien fließt davon bislang kaum etwas zurück, nicht zu denjenigen, die dafür sorgen, dass die Cocktails schmecken, dass die Toiletten sauber sind, die Jacuzzis sprudeln.

Touristen als Verbündete

Nasheed will das ändern: „Wir wollen den Tourismus neu ankurbeln, aber wir wollen vor allem kleine Pensionen fördern, guest houses auf den Inseln, wo auch die Bevölkerung wohnt, etwa auf Maafushi.“ Demokratisierung des Tourismus – so lautet, kurz gefasst, seine Devise. Heute flögen die meisten Feriengäste ins vermeintliche Paradies, ohne Kontakt zur Bevölkerung zu haben. Sie sollen die bunten Fische und Korallen bewundern, aber nicht sehen, wie die Menschen leben. Radikale Islamisten würden die Malediven nicht nur zur Rekrutierung und als Sprungbrett für Sri Lanka, Bangladesch und Malaysia nutzen, ist Nasheed sich sicher – sondern auch zur Geldwäsche. Inwieweit die Luxusresorts dabei involviert sind, erscheint undurchsichtig.

Nasheed glaubt, dass die demokratischen Kräfte im Land vor allem mit Hilfe der ausländischen Besucher zu stärken wären: „Ganz sicher würde ein Telefonat der Vorstandsvorsitzenden der großen Reiseveranstalter mit dem Präsidenten helfen. Darin sollten sie die Freilassung aller politischen Gefangenen fordern.“ Da die Konzerne davor aber vermutlich Angst hätten, würde sich Nasheed gern direkt an die Touristen wenden: „Buchen Sie Ihren Urlaub doch einfach direkt bei einem kleinen Hotel!“ Und er schlägt vor: Warum nicht in unabhängigen Restaurants essen, die von Einheimischen betrieben werden, mit einheimischem Fisch, der nicht extra aus Norwegen oder Schottland eingeflogen wird?

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