Demokratie ist keine rein europäische Erfindung

Politische Theorie Der Kolonialismus ist aus der politischen Theorie noch nicht verschwunden, das spiegeln aktuell die Vorbehalte gegen die Demokratiefähigkeit der arabischen Welt

Angesichts der nicht abreißenden Kette demokratischer Volksaufstände in der arabischen Welt fragen sich viele Beobachter in der westlichen Welt: „Können die das eigentlich?“ Noch Generationen nach der Selbstbefreiung unterdrückter Völker vom kolonialen Joch europäischer Herrenvölker hält sich hartnäckig das Vorurteil, die Demokratie sei eine Erfindung, von der nur die westliche Hemisphäre wirklich etwas versteht und die Länder des Morgenlandes seien auf alle absehbare Zukunft dazu verdammt, des­potischen Regierungsformen die Stange zu halten.

Dass die Skepsis gegenüber der demokratischen Begabung arabischer Bevölkerungen auf kolonialistische Zerrbilder zurückgeführt werden muss, die bis heute in manchen Kultur- und Politiktheorien überliefert werden, hat Edward Said bereits vor vielen Jahren in seiner berühmt gewordenen Orientalismus-Studie gezeigt. Ungeachtet dessen ist weiterhin viel vom Kampf der Kulturen die Rede, vom Zusammenprall „des“ Islams mit „der“ westlichen Welt, der vorgeblichen Zivilisation mit der angeblichen Barbarei.

Dabei sind die scheinbar feststehenden Identitäten in historischer Perspektive oft kaum mehr als Momentaufnahmen in einem steten Fluss, der immer neue kulturelle Mischungen hervorbringt. Darauf haben Ilija Trojanow und Ranjit Hoskote in ihrem Essay Kampfabsage (2007) aufmerksam gemacht. Das gilt gerade auch für die Demokratie, auf deren Begriff und Sache der Westen keineswegs das alleinige Urheberrecht beanspruchen kann.

Beispielsweise ist das politische Denken in Nordamerika seit dem 18. Jahrhundert auch vom Generationen dauernden ökonomischen und diplomatischen Austausch englischer Kolonisten mit indianischen Gesellschaften geprägt worden. In der Waldlanddiplomatie lernten die Einwanderer, dass die sogenannten Wilden geordnete Gemeinwesen und Konfödera­tionen auch ohne Chef und Staat zu bilden in der Lage waren. Die Erfahrungen mündeten in eine republikanische „Indianerbegeisterung“, die das Unabhängigkeitsstreben der Revolutionäre im Krieg gegen das englische Mutterland merklich beflügelte.

Noch Jahrzehnte später beriefen sich die frühen US-Frauenrechtlerinnen auf den Einfluss, den indianische Frauen in „wilden“ Gesellschaften genossen, um Ansprüche auf politische und rechtliche Gleichstellung in der „Zivilisation“ zur Geltung zu bringen. Am Ende der in den USA vor knapp 20 Jahren intensiv geführten Debatte um den Einfluss der Irokesen auf die US-Verfassung stand nicht mehr die Frage im Raum, ob es einen solchen Einfluss überhaupt gegeben habe, sondern wie groß seine Wirkung auf die Geschichte politischer Ideen tatsächlich war.

Neue Brisanz erfährt das Thema durch die Bemühungen der heutigen politischen Theorie in Nordamerika aus den genannten historischen Erfahrungen für die Lösung heutiger Konflikte zwischen den Nachfolgestaaten europäischer Siedlerkolonien und den auf dem gleichen Territorium lebenden indigenen Minderheiten zu lernen.

So hat die vor wenigen Jahren verstorbene feministische Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young in ihrem letzten Buch Global Challenges (2007) den Gedanken gestärkt, dass sich durch die Diskussion um die Einflussthese das Demokratieverständnis in den USA deutlich erweitert und pluralisiert habe. Die hybride Sicht auf die politische Geschichte eröffne Chancen, kolonialherrschaftlich geprägte Dichotomien der Machart „Wilde“ gegen „Zivilisierte“ und daran anknüpfende Feindsetzungen zu überwinden.

Dem Philosophen James Tully wiederum gaben die Kämpfe der heutigen Irokesen und anderer indigener Gesellschaften in Kanada in den 1990er Jahren den Anstoß, eine eigene Theorie politischer Freiheit zu entwickeln, deren entschieden anti-imperialistische Stoßrichtung in dem Buch Politische Philosophie als kritische Praxis (2009) deutlich wird.

Endgültig verabschiedet haben sich diese Autoren von dem Gedanken einer Alleinzuständigkeit des Westens in Sachen Demokratie.

Thomas Wagner ist Autor des Buchs Irokesen und Demokratie. Lit Verlag 2004. Zuletzt erschien von ihm: Die Einmischer. Wie Schriftsteller sich heute engagieren Argument 2010

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